In Europa geht wieder ein Gespenst um, oder doch nicht?
Gegenwärtiges Unbehagen an der wirtschaftlichen und politischen Realität veranlasst Menschen, in die Vergangenheit auszuwandern. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks und des Balkans wächst die Sehnsucht nach dem Kommunismus.
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet … Der Kommunismus wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt.“
Mit diesen Sätzen leiteten zur Jahreswende 1847/48 Karl Marx und Friedrich Engels das erste Kapitel des Kommunistischen Manifests ein. Die politische Schrift erschien am 21. Februar 1848 in London.
Gut 140 Jahre später schien mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und dem Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion ab 1991 nicht nur der Kalte Krieg, sondern auch die Ära des Kommunismus samt Staatsterror in Europa beendet zu sein. Es hatte auch den Anschein, als würden Marx und Engels, ihre Mitstreiter und Nachfahren in der Mottenkiste der Geschichte versinken oder dort nur der kritischen Aufarbeitung harren.
2007 erschütterte eine Finanzkrise Europa, die ihren Ursprung in der amerikanischen Immobilienkrise hatte und sich zu einer globalen Bankenkrise ausweitete. Diese Bewährungsprobe warf und wirft noch wichtige Fragen auf, die nicht nur das Verhältnis von Politik und Finanzmärkten betreffen oder die Globalisierung und das Wirtschaftssystem des Kapitalismus, sondern auch die weitere Entwicklung der Europäischen Union.
In Zeiten großer Unruhe und Orientierungslosigkeit ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen sich auf ihre Geschichte besinnen, auf vergangene Ideologien und auf die Vorväter, die die Zeitläufte mitbestimmten. So gehören etwa die Werke von Karl Marx heutzutage wieder zu den Bestsellern. In ganz Europa sind zudem mehr oder minder starke nationalistische Töne zu vernehmen und in den Ländern des ehemaligen Ostblocks sowie in den Balkanstaaten brechen alte Sehnsüchte auf.
Diese Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche haben Wissenschafter ernst genommen: Der Historiker und Kommunikationswissenschafter Rainer Gries, Inhaber des Franz Vranitzky Chair for European Studies (FVC) an der Universität Wien und Professor an der SigmundFreud-Privatuniversität Wien, hat gemeinsam mit Dieter Segert, Politikwissenschafter und Fachmann für Transformationsprozesse in Mittel-, Ost- und Südeuropa, eine Bestandsaufnahme gemacht.
Das Ergebnis: Nostalgische Bezugnahmen auf den Staatssozialismus sind Anfang des 21. Jahrhunderts bei jungen Leuten in manchen Staaten ebenso en vogue wie Bewegungen, die unter den Bedingungen einer globalisierten Welt neue Formen von Gemeinschaft und Genossenschaft propagieren.
„Man muss es klar sagen“, stellt Dieter Segert fest, „der Kommunismus als Staatssozialismus mit all seinen Auswüchsen ist gescheitert. Seit 1989 und 1991 scheint es also nur noch eine Richtung zu geben, den Kapitalismus. Wir haben uns gefragt, ob das jetzt immer noch so ist.“Rainer Gries ergänzt: „Und wir haben gefragt, wie gehen junge Menschen im heutigen Postjugoslawien mit dem politischen Erbe um, was passiert in Ostdeutschland und in Osteuropa?“Auch im Osten Deutschlands suchten gerade junge Erwachsene wie überall in Europa nach Identität, nach Kontinuität und Sicherheit, was sich jedoch mittlerweile weniger als DDR-Nostalgie manifestiere.
In den Nachfolgegesellschaften Jugoslawiens grassiere die Sehnsucht nach der vermeintlich heilen „kommunistischen“Vergangenheit, die unter dem Titel „Jugo-“und „Tito-Nostalgie“firmiert. „In diesen Ländern sind nicht Parteien und Gewerkschaften entstanden, wie wir sie kennen. Hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten, wenige aussichtsreiche Perspektiven für die Zukunft, ein korruptes politisches System, kaum politische Partizipation und der rasend schnelle Wechsel zu einem neoliberalen System in Reinform, ohne die Sozialsysteme, die wir dazwischengepuffert haben, führen zur Rückschau. Die Jugend will auswandern. Im wörtlichen Sinn oder auch nur im Kopf“, erklären Rainer Gries und Dieter Segert.
Was aber ist übrig geblieben vom Gespenst? Was hätte der Kommunismus an Gutem zu bieten?
Es gehe um das, woran man sich persönlich erinnere, sagt Dieter Segert. „Man sehnt sich nicht nach dem Realsozialismus, sondern nach den eingelösten oder nicht eingelösten Versprechen, wie etwa der Besserstellung der Frauen. Die Nostalgie, die wir sehen, ist aber nicht einfach Erinnerung. Sie ist die Kritik an der Gegenwart, in der man Gerechtigkeit, Sicherheit, auch eine gewisse staatliche Fürsorge vermisst. Auf lang gefestigte demokratische Strukturen kann man aber in der Erinnerung dort nicht zurückgreifen.“
In Ländern diesseits des Eisernen Vorhangs werde die Lücke – das Unbehagen an der Gegenwart – von anders gefärbter politischer Denkweise geschlossen oder, so könnte man auch sagen, von anderen Gespenstern. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens hätten sich die verständlichen menschlichen Sehnsüchte jedoch in den „roten“Mantel gehüllt. Karl Marx wird diesseits und jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs wieder begeistert gelesen. „Es ist seine Kritik an den Auswüchsen des damaligen Kapitalismus, die so aktuell ist und vor allem junge Menschen anspricht. Wenn die Beschäftigung mit Marx und mit dem Kommunismus einen Sinn hat, dann den, dass wir uns fragen können, wie weit wir unser Leben der wirtschaftlichen Effizienz unterordnen möchten und ob es nicht Zeit wäre, etwas gegen die Unterordnung zu tun“, sagt Dieter Segert. Es gebe ein großes Bedürfnis nach Debatten über die Zukunft und wie sie zu gestalten wäre.
Für Rainer Gries bietet die Auseinandersetzung mit der Nostalgie ebenfalls die Chance, einen anderen Blick auf die Ökonomie zu werfen: „Es geht nicht darum, den Kommunismus wiederzuerrichten, sondern Alternativen für gemeinschaftliches Handeln heute und morgen zu diskutieren, mehr im Sinne eines Commonismus.“In vielen Ländern Europas probieren junge Menschen mittlerweile alternative Arten des Wirtschaftens aus. Noch sind es Nischen.
„Junge Osteuropäer tragen ein ganz anderes politisches Erbe.“Rainer Gries, Historiker „Diese Nostalgie ist eine Kritik an dem, was ist.“Dieter Segert, Politikwissenschafter