Reportage. Der kleine Victor und sein Land auf der Suche nach der Zukunft. Wer kann, verlässt die Republik Moldau.
Die Republik Moldau hat nur noch halb so viele Einwohner wie vor 25 Jahren. Wer kann, verlässt das ärmste Land Europas. Die, die bleiben, können ohne Hilfe kaum überleben.
Victor wird bald sieben Jahre alt und freut sich auf die Schule. Es geht ihm gut. Zwar ist er für sein Alter sehr klein, was von der Mangelernährung, der er seit seiner Geburt ausgesetzt ist, herrührt. Und dem Ruß in der Wohnung. Dem Schimmel an den Wänden. Und dem mit Nitraten belasteten Grundwasser, das er zu trinken bekommt. Doch das tut seiner guten Laune keinen Abbruch. Er fetzt über den Hof, scheucht die Hühner auf, läuft über dampfenden Trester und borstige Kukuruzstängel. Die Mama ist da, die sechs Geschwister ebenfalls. Nur der Papa muss arbeiten. Was genau, weiß Victor nicht. Im Prinzip jeden Tag etwas anderes. Erntehelfer, Traktorfahrer, Mechaniker. Wozu er gerade gebraucht wird. Braucht ihn niemand, hat er auch keine Arbeit. Dann werden die Vorräte knapp, die Holzstöße vor dem Haus immer niedriger – und aus der alltäglichen Not wird rasch ein Kampf ums Überleben.
So ist das in Ghetlova, rund zwei Autostunden nördlich von Chisinau, Hauptstadt und Mittelpunkt der Republik Moldau. Dabei zählt das Dorf mit seinen rund 5000 Einwohnern zu den privilegierten, beherbergt es doch ein Sozialzentrum der österreichischen Hilfsorganisation Concordia.
Das Gebäude steht in krassem Gegensatz zur Umgebung. Es ist bunt, warm und lebendig, man hört Kinderlachen, man blickt in die erleichterten Gesichter der Alten. Ringsum jedoch breitet sich eine alles erstickende Perspektivlosigkeit aus, die zu einem in Europa beispiellosen Exodus geführt hat. Seit der Unabhängigkeit des Landes am 27. August 1991 hat die Hälfte der Moldauer ihre Heimat verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt. Von den einst 4,4 Millionen Einwohnern sind noch knapp 2,4 Millionen da. Fast eine Million wohnt in der Hauptstadt Chisinau, der Rest verteilt sich auf einer Fläche halb so groß wie Österreich.
Im Schnitt wandern pro Tag 150 Moldauer aus. Wer die Chance hat zu gehen, geht. Genutzt wird sie vor allem von Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Bevorzugte Destinationen sind Rumänien, Russland, Italien, Spanien. Zurück bleiben Kinder mit ihren Großeltern, deren geschundene Seelen in ausgemergelten Körpern stecken und sich nach Zeiten sehnen, in denen die Sowjetunion zumindest für geordnete Verhältnisse sorgte und die Republik als Gemüsegarten des Riesenreichs galt. Denn die fette, schwarze Erde ist unvergleichlich fruchtbar. Weinreben überziehen große Teile des hügeligen Landes. Doch das Endprodukt ist schwer zu Andreas Tröscher berichtet für die SN aus Moldau vermarkten. Die westeuropäische Konkurrenz ist zu mächtig. Ein Großabnehmer ist Russland. Tendiert Moldau aber wieder einmal zu sehr Richtung EU, gilt der Wein urplötzlich als ungenießbar und die Ankäufe werden gestoppt.
Hinzu kommt, dass ein kleiner Teil Moldaus abtrünnig ist: Transnistrien, in Form und Größe dem Burgenland ähnlich, betreibt am anderen Ufer des Dnjestr ausschweifenden Sowjetkult, lässt seine „Grenzen“mithilfe der russischen Armee absichern, hat seine eigene Währung und stellt eigene Pässe aus. Da der separatistische Landstrich allerdings völkerrechtlich nicht anerkannt ist, haben Geld und Dokumente außerhalb Transnistriens keinerlei Bedeutung oder gar Gültigkeit. Die Entwicklung Moldaus behindert der eingefrorene Konflikt allerdings nachhaltig.
Victor hat von all dem noch keine Ahnung. Auch das Mirakel, wie seine Eltern die Familie mit knapp 100 Euro im Monat durchbringen, weiß er nicht einzuordnen. Er freut sich, dass alle da sind und sich abends, wenn die Dunkelheit über das unbeleuchtete Ghetlova einbricht, um den blubbernden, rauchigen Ofen versammeln. Er braucht noch nicht zu wissen, dass er in einem Land lebt, das ohne Hilfe von außen schon lang ein „Failed State“wäre. Dass Moldau auf Platz 107 (von 188) des Human Development Index rangiert, hinter Libyen und der Mongolei, sagt Victor nichts. Oder dass sich die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus jenen Geldsendungen speist, die von den Exilmoldauern nach Hause geschickt werden. Und dass in den stets harten Wintern unzählige Dörfer wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten sind und viele Menschen verhungern oder erfrieren.
Victor hingegen lächelt. Er hat zwischen seiner Mama und dem Kälbchen Aufstellung genommen. Ihm gegenüber steht Rainer Stoiber von Concordia. Die Organisation ist seit 2004 in Moldau tätig und betreibt mittlerweile 34 Sozialzentren. In 60 Dörfern gibt es Wärmestuben und Suppenküchen. Essen wird sogar ausgeliefert. „Unsere Einrichtungen geben auch Mut, sie sind ein starkes Zeichen, dass da jemand ist, dem die Menschen in den abgelegenen Regionen nicht egal sind“, betont Stoiber. „Wir nehmen aber auch die Bürgermeister, die Nachbarn oder Wirtschaftstreibende in die Pflicht, sich um die Armen und Alten zu kümmern. So entsteht langsam wieder ein Netzwerk der Hilfe.“
Victors Familie erhielt das Kälbchen sowie eine Kuh. Die ist gerade auf der Weide – und trächtig. Das zu erwartende Kalb geht an eine andere Familie.
So, Schluss, Victor hat genug vom Herumstehen. Er fetzt über den Hof, die Hühner gackern aufgebracht. Vielleicht wird der quirlige Bub ja einmal nach Chisinau gehen, dort arbeiten oder studieren. Und vielleicht wird das Land dann so weit sein, dass Victor es nicht verlassen muss.