Moral und Kunstgenuss. Debatte um sexuelle Belästigungen wirft grundsätzliche Fragen auf.
Kann man Kunst und Künstler trennen? Die Debatte um sexuelle Belästigungen wirft grundsätzliche Fragen auf.
Vor zwei Wochen war Comedian Jerry Seinfeld in der Late-Night-Talkshow von Stephen Colbert zu Gast. Das Gespräch kam auf Bill Cosby, der beide als Künstler geprägt hatte. Colbert stellte die unvermeidliche Frage, ob Seinfeld noch Programme von Cosby ansehen könne, nachdem im letzten Jahr über 35 Frauen angegeben hatten, von dem Comedian mit K.-o.-Tropfen betäubt, missbraucht oder vergewaltigt worden zu sein. Jerry Seinfeld bejahte vehement und war sichtlich erstaunt, dass dies bei Colbert nicht so sei. Fünf Minuten später ruderte Seinfeld zurück: Er habe in der Werbepause nachgedacht und bemerkt: Dies habe sehr wohl Auswirkungen auf ihn. Ob dieses „Nachdenken“von einem Pressesprecher gelenkt wurde oder ob Seinfeld selbst erkannt hatte, dass er sich mit seiner Aussage Unmut zuziehen würde, sei dahingestellt. Es führt aber sehr plakativ den Konflikt vor Augen, dem sehr viele Kulturinteressierte und -schaffende gerade ausgesetzt sind.
Will ich mir noch Filme von Harvey Weinstein ansehen in dem Wissen, dass Weinstein mit seiner Macht und seinem Einfluss Frauen zum Schweigen gebracht hatte? Frauen, die er zuvor sexuell belästigt, genötigt oder sogar vergewaltigt hatte. Kann ich einen Besuch der Comedyshow von Louis C.K. mit meinem Gewissen vereinbaren, obwohl dieser zugegeben hat, dass er Frauen gezwungen hatte, ihm beim Masturbieren zuzusehen? Soll ich öffentlich sagen, dass ich ein Fan der Serie „Mad Men“bin, obwohl dessen Erfinder Matthew Weiner nun ebenfalls mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung konfrontiert wird?
Begeht ein Künstler etwas, das strafbar oder auch nur verwerflich ist, löst das nach Freud in uns einen inneren Kampf aus, zwischen unserem „Ich“, das seine Kunst gut findet, und dem Über-Ich, das den Künstler moralisch verurteilt. Die Frage, ob man Kunst vom Künstler trennen kann, ist allerdings nicht neu. Bis heute sind Aufführungen des Antisemiten Richard Wagner in Israel praktisch tabu, vor einigen Hundert Jahren wurde der vom Publikum gefeierte Malerstar Caravaggio wegen Totschlags aus Rom verbannt. In den Kunstkanon sind beide eingegangen, und ihre Vergehen sind oft nur mehr Fußnoten in ihren Biografien. Kulturjournalistin Clarissa Stadler meint dazu: „Es fällt leichter, Kunst und Künstler zu trennen, je länger der Betreffende nicht mehr lebt. Bei Caravaggio – und vielen anderen – kräht kein Hahn mehr nach ihrem Sünden- bzw. Strafregister. Bei zeitgenössischen Künstlern ist das etwas anderes.“
Moralische und ethische Grundsätze verschieben sich. Was früher alltäglich war und später geduldet, wird heute geächtet. Der Philosoph, Lektor und Autor Georg Schildhammer führt aus: „Die Gesellschaft als solche wird vielleicht nicht ,moralischer‘, aber wir reagieren immer sensibler auf bestimmte Themen. In den Romanen ,Die Abenteuer des Huckleberry Finn‘ oder ,Pippi Langstrumpf‘ kommen die Begriffe ,Nigger‘ und ,Negerkönig‘ vor. Soll man das in Neuauflagen umformulieren? Ich finde nicht. Ein Kunstwerk soll meiner Meinung nach nicht verändert werden. Aber unkommentiert würde ich es auch nicht stehen lassen. Man sollte sich damit auseinandersetzen, zum Beispiel, indem man ein textkritisches Nachwort anfügt, in welchem man solche Begriffe erklärt oder sie in den Kontext der Entstehung des Werkes stellt.“
Der Schauspieler Erwin Steinhauer hadert mit sich: „Ich bin da sehr ambivalent. Manche Künstler verstellen mir die Sicht auf ihr Werk, aufgrund ihrer Haltung und Einstellung. Wie zum Beispiel Richard Wagner durch seinen Antisemitismus. Andererseits denke ich, dass es einem gelingen muss, Kunst vom Künstler zu trennen.“
Viele Kunstschaffende brauchen die Grenzüberschreitung, um ihrer Kreativität nachzugehen. Doch gerade derzeit wird aufgezeigt, dass sich dies für manche von ihnen nicht nur auf die Kunst beschränkt und dass es im Privaten seine Fortsetzung findet. Das Publikum ist hier oft sehr liberal. Das geht so weit, dass es bei den Stars beinahe eine Erwartungshaltung gibt, dass sich diese von uns „Durchschnittsmenschen“abheben. „Extremer Alkohol- oder Drogenkonsum bei manchen Künstlern, wie wir ihn oft von den Medien präsentiert bekommen, führt selten dazu, dass Künstler und ihre Projekte boykottiert werden. Dadurch liegt die Möglichkeit nahe, dass der Künstler der Meinung ist, auch in anderen Bereichen mehr Grenzen überschreiten zu können“, ist Psychotherapeutin Monika Spiegel überzeugt.
Die #metoo-Debatte, die auch Publikumslieblinge und Branchengrößen betrifft, ist erstmals ein deutlicher Stopp! der Gesellschaft. Der Comedian Louis C.K. galt bis letzte Woche als Feminist. Er war ein erklärter Frauenförderer in einer sehr männerdominierten Branche. In seinen Programmen und seiner Fernsehserie zeigte er regelmäßig den Kampf des Mannes mit seiner Rolle in der heutigen Gesellschaft auf. In seinen Geschichten ist er zwar weit vom Gentleman und Saubermann entfernt, doch spricht er Wahrheiten ungeschönt aus. Drastische Sätze wie „Wie können Frauen überhaupt noch mit Männern ausgehen, wenn man bedenkt, dass es für Frauen keine größere Bedrohung als den Mann gibt? Wir stehen auf Platz eins der Bedrohungen für Frauen, global und historisch gesehen. Wir sind der häufigste Grund für Verletzungen von Frauen. Wir sind das Beschissenste, was ihnen je passiert ist“standen oft am Ende der Beschreibung seiner Interaktion mit Frauen.
Es stellt sich nunmehr die Frage, ob es naiv war zu erwarten, dass er die praktische Konsequenz aus diesen Erkenntnissen zieht. Louis C.K.s Fans und Kollegen waren besonders schockiert, als sich die Vorwürfe gegen ihn als wahr herausstellten. Monika Spiegel erklärt dies so: „Wenn ich Fan bin, idealisiere ich den Künstler. Alles, was an dieser Person negativ ist, verdränge ich, damit ich mich mit der moralischen Seite nicht auseinandersetzen muss. Bei Teenagern kann man das sehr oft beobachten. Man kann es psychisch gesehen nicht aussparen – aber Moral verändert sich in einem bestimmten Zeitraum.“So messen wir unterschiedliche Künstler mit unterschiedlichen Maßstäben, wie Georg Schildhammer erörtert: „Jeder von uns ist bis zu einem gewissen Grad subjektiv und hat Vorurteile und Präferenzen. Aus ethischer Sicht ist jedoch etwas unmoralisch, was unmoralisch ist. Punkt. Egal, wer es gemacht hat.“
Die große Entrüstung vonseiten der Medien und des Publikums hat nun dazu geführt, dass Hollywood reagiert. Doch anstatt sich mit der Problematik zu befassen und weibliche Crewmitglieder und Schauspielerinnen langfristig zu unterstützen, um solche Fälle erst gar nicht mehr passieren zu lassen, reagiert man branchentypisch mit „Oberflächenkosmetik“.
Filme bleiben unveröffentlicht, Serien werden von Streaming-Plattformen entfernt, die Oscar-Akademie wirft Mitglieder aus dem Verband, und es werden sogar Schauspieler aus fertigen Filmen geschnitten. „Jetzt Szenen mit Kevin Spacey aus dem fertig gedrehten Film (Anm.: ,Alles Geld der Welt‘) zu schneiden ist lächerlich. Da geht es wohl eher nicht um Haltung, sondern um die Angst vor Imageschäden und kommerziellen Einbußen“, attestiert Clarissa Stadler.
Die #metoo-Debatte ist ein historischer Einschnitt. Wir werden in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren möglicherweise oft mit einem unangenehmen Gefühl Filme sehen, Musik hören und Comedyprogramme besuchen. Oder auch nicht. Je nachdem, wie gut das kollektive Verdrängen funktioniert.