Wenn Buchstaben Gestalt annehmen
Was Texte in uns auslösen, hängt nicht nur von deren Inhalt ab. Fast genauso wichtig ist, wie und wo wir sie lesen.
Machen Sie es sich bequem, am besten auf einem gepolsterten Sessel. Denn das stimmt positiver, haben Experimente gezeigt: Wer im Kaffeehaus auf einem harten Stuhl sitzt, empfinde die Bedingung tendenziell als weniger freundlich als jemand, der sanfter gebettet sei, berichtete die Erziehungswissenschafterin Theresa Schilhab von der Universität Aarhus am Wochenende in Spitz an der Donau bei einer Veranstaltung der Europäischen Literaturtage.
Schilhab erforscht normalerweise nicht das Verhalten von Kaffeehausbesuchern, sondern jenes von Lesern. Das Beispiel aus dem Kaffeehaus gilt im Grundsatz aber auch hier: Wie wir etwas empfinden und aufnehmen, hängt stark von den äußeren Umständen ab. Übertragen auf das Lesen bedeutet das, Texte wirken anders, je nachdem wo und wie wir sie konsumieren. Wer beim Lesen eines Comics die Lippen aufeinanderpresst, stimuliert beispielsweise den Lachmuskel und wird den Comic lustiger finden als jemand, der die Zähne zusammenbeißt. Uns selbst mit solchen Kniffen auszutricksen funktioniert laut der Wissenschafterin aber kaum. Denn es gibt zu viele Einflüsse, die gleichzeitig auf uns einwirken, als dass wir sie alle steuern könnten.
Wie also funktioniert Lesen? So lautete nicht nur der Titel der Veranstaltung in Spitz, es ist gleichzeitig der Arbeitstitel der europäischen Forschungsinitiative E-Read. Mehr als 180 Wissenschafter aus unterschiedlichen Disziplinen, darunter Theresa Schilhab, erforschen gemeinsam das Wesen des Lesens. Vor allem gehen sie der Frage nach, wie die Digitalisierung selbiges verändert hat.
Die Leitung der Forschungsinitiative liegt bei Adriaan van der Weel. Der Professor für Buchwissenschaften an der Universität Leiden in den Niederlanden ist der Ansicht, dass derzeit die „dritte Revolution des Lesens“im Gange ist. Die erste wurde zu dem Zeitpunkt eingeläutet, als der Mensch zu lesen begonnen hat, die zweite mit dem Buchdruck und die dritte mit der Digitalisierung. Diese laufende „unglaubliche Medienrevolution“beobachten zu können, empfinde er als großes Privileg, zeigte sich der Professor in Spitz euphorisch. Durch die Digitalisierung verändere sich das Lesen stark, aber nicht unbedingt so, wie wir das vermuteten.
Grundsätzlich gilt: Noch nie zuvor hat die Menschheit so viel gelesen wie heute. Einbezogen werden von den Forschern dabei nicht nur Bücher, Zeitschriften oder Zeitungen. Wir lesen eigentlich fast den ganzen Tag über, während wir unseren Alltag meistern. Die Texte, mit denen wir konfrontiert sind, reichen von Anzeigen in öffentlichen Verkehrmitteln über Werbung und Gebrauchsanweisungen bis zu E-Mails und persönlichen Nachrichten in sozialen Netzwerken.
Während wir lesen, steht diese Tätigkeit immer in Konkurrenz zu anderen. Das ist an sich nichts Neues. Mit der Digitalisierung ist die Konkurrenz aber stärker geworden – und sie hat mitunter Einzug in das Lesegerät selbst gehalten.
Sind wir in ein gedrucktes Buch, eine gedruckte Zeitung oder Zeitschrift vertieft, werden die Ablenkungen hauptsächlich von außerhalb kommen. Lesen wir auf einem digitalen Gerät, sind die potenziellen Ablenkungen viel näher. Andere Bücher sind vielleicht auf demselben Gerät gespeichert, gibt es eine Internetverbindung, können EMails aufpoppen, wir lesen schnell etwas im Internet nach oder werden von Kalender-Erinnerungen oder konkurrierender Unterhaltung wie Musik oder Videos gedanklich in Beschlag genommen.
Diese ständige potenzielle Ablenkung hat Auswirkungen. „Es ändert, wie wir mit Texten umgehen. Wir wollen eher kürzere Dinge lesen“, sagt van der Weel. Noch treffe das nicht nur, aber vor allem auf digitale Angebote zu. „Mit dem Papier kommt die Erwartung, nicht unterbrochen zu werden“, beschreibt der Buchwissenschafter.
Je mehr wir aber auf dem Bildschirm lesen, desto mehr verändert sich mit der Art des Lesens auch die Art unseres Denkens. Denn mit dem Lesen sei immer eine sehr spezielle Fähigkeit einhergegangen, die unser Denken auf eine andere Ebe
„Mit dem Papier kommt die Erwartung, nicht unterbrochen zu werden.“ Adriaan van der Weel, E-Read
ne gehoben habe, sagt van der Weel. Lesen sei nie bloße Unterhaltung, es schule immer auch unsere Konzentration und die Disziplin, wenn wir konsequent von einem Kapitel zum nächsten gelangen. Das könne durch das Lesen am Bildschirm verloren gehen.
Dass das Lesen von digitalen Inhalten grundsätzlich schlecht sei, wollen die Wissenschafter aber keineswegs sagen. Die Digitalisierung habe auch ihre positiven Effekte und animiere zum Beispiel Buben eher zum Lesen. „Ein Buch ist einfach weniger sexy als ein Tablet“, begründet das van der Weel.
Dass das gedruckte Buch über kurz oder lang verschwinden wird, diese Angst haben Autoren, Verlage und Händler ohnehin kaum noch. Was stagniert, sind derzeit eher die Verkäufe bei E-Books. Zudem wird in das gedruckte Wort, zumindest in westlichen Gesellschaften, mehr Vertrauen gesetzt. „Wir tendieren dazu, Texte auf dem Bildschirm nicht so ernst zu nehmen“, nennt der Leiter der E-Read-Forschungsgruppe ein zentrales Ergebnis.