Rittern um die Agenturen aus London
Der Brexit erfordert die Absiedlung der Arzneimittelagentur und der EU-Bankenaufsicht. Wien ist zwei Mal im Rennen, aber kein Favorit.
BRÜSSEL. Am Montagnachmittag wird es in Brüssel ungewohnt spannend. In einem komplizierten geheimen Abstimmungsmodus, der eigens dafür (weiter)entwickelt wurde, entscheiden die Europa-Minister, wo die beiden EU-Agenturen, die Brexit-bedingt London verlassen müssen, künftig angesiedelt werden. Um den Sitz der EU-Arzneimittelagentur EMA mit knapp 900 Mitarbeitern haben sich 19 Städte beworben. Um die EU-Bankenaufsicht EBA mit 190 Beschäftigten rittern acht Städte.
Die EU-Kommission hat Ende September alle Bewerbungen nach den vorher vereinbarten Kriterien (Gebäude, Zugänglichkeit, Bildungseinrichtungen, Arbeitsmarkt, Sozialversicherung und medizinische Versorgung, Kontinuität der Geschäftstätigkeit und geografische Ausgewogenheit) bewertet, aber nicht gereiht. Wien hat sich für beide Agenturen beworben und den ehemaligen österreichischen EU-Botschafter Gregor Woschnagg zur Unterstützung beigezogen. Die Kommission monierte, dass bei einem vorgeschlagenen Gebäude Angaben etwa zu Arbeitsplätzen oder IT-Standards fehlten, auch zum Zugang zu Sozialversicherung habe man Informationen vermisst.
Als Favoriten für die EMA werden in Brüssel Bratislava und Mailand gehandelt bzw. unter dem Aspekt einer nahtlosen Fortsetzung der Geschäftstätigkeit Amsterdam und Kopenhagen. Bratislava wirbt nicht nur mit seinem eigenen, sondern auch mit dem nahen Wiener Flughafen und mit der Tatsache, dass noch keine wichtige Agentur in der Slowakei angesiedelt ist. Mailand bietet als neuen Sitz der Behörde das 1958 gebaute Pirelli-Hochhaus an, eines der Wahrzeichen der Stadt.
Für die EBA wurde wiederholt Frankfurt genannt, das seit Monaten intensiv um „Brexit-Flüchtlinge“aus der Finanzbranche wirbt. Der Umzug der EBA gilt auch deshalb als attraktiv, weil sich ihm voraussichtlich noch unentschlossene Großbanken mit Tausenden Mitarbeitern anschließen dürften.
Der Ausgang der Wahl ist völlig ungewiss, entsprechend viel wird spekuliert. Seit Wochen laufen im Hintergrund Verhandlungen und werden Seilschaften gebildet. Die Versprechen im Gegenzug zur Unterstützung sollen bis zu NATOTruppen-Zusagen und dem nächsten Eurogruppen-Chef reichen. Ein Gerücht lautet, Berlin und Paris unterstützen Bratislava bei der EMA, dafür geht die EBA nach Frankfurt und wird die in Paris angesiedelte Wertpapieraufsicht ESMA aufgestockt. Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich jedenfalls darauf geeinigt, dass sie das Ergebnis akzeptieren werden.
Das Abstimmungsverfahren erinnert entfernt an den Eurovision Song Contest und sieht bis zu drei Wahlgänge vor. In der ersten Runde können die 27 EU-Staaten – Großbritannien nimmt naturgemäß nicht teil – drei, zwei und einen Punkt(e) an ihre Favoriten vergeben. In den nächsten Runde kann nur noch ein Punkt an die drei Bestplatzierten vergeben werden, dann an die Top 2.
Zunächst stimmen die Minister – für Österreich ist Finanzminister Hans Jörg Schelling in Vertretung von Außen- und Europaminister Sebastian Kurz dabei – über die
„Zwei sehr attraktive Angebote.“Hans Jörg Schelling, Finanzminister
EMA ab, dann über die EBA. Um in erster oder zweiter Runde zu gewinnen, bräuchte ein Bewerber die maximale Stimmenanzahl von mindestens 14 EU-Staaten. In der dritten Runde gewinnt der Bewerber mit den meisten Stimmen. Herrscht auch dann noch ein Gleichstand, lässt die estnische EU-Ratspräsidentschaft das Los entscheiden. Die Abstimmung ist geheim, veröffentlicht werden sollen nur die Gewinner, aber keine Punkte und Zwischenstände. Die Stimmzettel sollen nach der Abstimmung vernichtet werden. Wer die EMA bekommt, fällt für die EBA aus.
Jene Städte, die sich in dem Standortwettbewerb durchsetzen, dürfen auf erhebliche Zusatzeinnahmen hoffen. EMA und EBA richten jährlich Hunderte Konferenzen und Veranstaltungen mit Experten aus aller Welt aus. Zuletzt sorgten beide Agenturen in London für rund 39.000 zusätzliche Hotelübernachtungen pro Jahr.
Eine Übersiedlung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA von London nach Wien könnte das österreichische Bruttoinlandsprodukt innerhalb von fünf Jahren um eine Milliarde Euro steigern, hat das Institut für Höhere Studien (IHS) errechnet. Außerdem würden in diesem Zeitraum rund 9000 zusätzliche Arbeitsplätze gesichert werden können, heißt es.