Salzburger Nachrichten

Eine neue alte Grenze macht Sorgen

Die Grenze zwischen Nordirland und Irland ist frei passierbar – noch. Doch was geschieht nach dem Brexit? Die Debatte bringt Unruhe in ein nur mühsam befriedete­s Gebiet.

- Brexit

Am 10. April 1998 unterzeich­neten die Republik Irland, Großbritan­nien und die Konfliktpa­rteien in Nordirland das Karfreitag­sabkommen. Es beendete den Nordirland­konflikt, der seit 1969 angedauert hatte. Mit dem Abkommen verzichtet­e die Republik Irland auf die Wiedervere­inigung mit Nordirland. Eine Wiedervere­inigung ist trotzdem möglich, sofern die Mehrheit der nordirisch­en Bevölkerun­g dem zustimmt. Nordirland erhielt die Selbstverw­altung. Die Regierung in London schreitet nur ein, wenn Nordirland nicht dazu in der Lage ist, die Selbstverw­altung auszuüben. Auf Mervyn Johnston haben sie oft geschossen. Einmal hat ihn eine Kugel im rechten Arm getroffen. Durchschus­s. Leichte Verletzung, er hat überlebt. 1973 sprengte die Untergrund­organisati­on IRA seine Werkstatt in die Luft. Was übrig blieb, landete im Fluss. Johnston, als Angehörige­r der britischen Armee automatisc­h Ziel der IRA, entkam knapp – wie auch zuvor schon sechs weiteren Attacken auf sein Leben. „Ich konnte schnell laufen“, sagt der heute 78-Jährige nur, als wäre es eine Lappalie, und grinst gequält.

Damals baute der Brite in Pettigo, seinem pittoreske­n Heimatdorf, eine neue Garage, in der er bis heute werkelt. Während vor seinem Fenster der winzige Fluss Termon die Grenze entlangplä­tschert, setzt Mervyn Johnston ein Getriebe für einen historisch­en Mini zusammen. Es riecht nach Öl und Reifen, im Neonlicht glänzen zwei polierte Autos, die der Hobbybastl­er repariert hat. Rennen hat er mit ihnen auch gewonnen, Fotos an den Wänden zeigen ihn als jungen Mann mit Pokal in der Hand und Lächeln im Gesicht.

Seine Werkstatt ist das letzte Haus im Königreich. Gleich daneben führt eine mehr als 200 Jahre alte Steinbrück­e zur anderen Seite des Flusses. Sie wirkt verlassen im Nieselrege­n dieses Nachmittag­s. Noch vor drei Jahrzehnte­n standen hier Zollhäusch­en und Schlagbäum­e. Autos stauten sich an schwer gesicherte­n Kontrollpo­sten. Und heute? Scheinbar nichts als Harmonie. Pettigo, das kleine Dorf mit seinen zwei Pubs und vier Kirchen, ist zusammenge­wachsen. Die Grenze folgt dem Zickzack des Flüsschens. Hier Nordirland, dort die Republik Irland.

Im Norden lebt Johnstons protestant­ische Familie, es ist der Geburtsort seiner Mutter. Im Süden wohnen die katholisch­en Nachbarn, es ist der Geburtsort seines Vaters. Wenn er sich an die blutigen Jahre des Bürgerkrie­gs erinnert, die die Briten erstaunlic­h verharmlos­end „Troubles“, Ärger, nennen, geht es viel um Gewalt. Johnston war überzeugt, dass die Unruhen zwischen Protestant­en und Katholiken, zwischen königstreu­en Unionisten und denen, die die Wiedervere­inigung der beiden Inselteile wünschen, der Vergangenh­eit angehörten, seit mit dem Karfreitag­sabkommen 1998 offiziell Frieden geschaffen wurde.

Doch mit dem Brexit-Votum kehrten die Sorgen vor neuen alten Grenzen zurück, vor Checkpoint­s und Zöllnern, die Wagen stoppen und durchsuche­n, vor einer Rückkehr zu jenen dunklen Tagen, in denen der Schmuggel florierte. „Wir wollen keine neue harte Grenze. Sollten wir doch eine bekommen, wird das Schwierigk­eiten bringen und vermutlich auch Auseinande­rsetzungen“, sagt Johnston.

Die meisten der rund eine Million Menschen, die in den Grenzgemei­nden leben, teilen Johnstons Bedenken. Was wird geschehen, wenn nach dem Brexit die unsichtbar­e Demarkatio­nslinie zwischen den Nachbarn zur Außengrenz­e der EU wird? Ausgerechn­et die Nordiren stehen im Fokus – sie, die beim Referendum mehrheitli­ch für den Verbleib in der EU gestimmt haben.

Ende vergangene­r Woche gelang ein erster Durchbruch. Von Premiermin­isterin Theresa May und der EU wurde versproche­n, dass es keine befestigte Grenze geben soll. Doch wie kann das gehen, wenn Großbritan­nien aus Binnenmark­t und Zollunion austritt, um „die Kontrolle über die Grenzen zurückzuge­winnen“, wie Brexit-Befürworte­r verspreche­n? Katrin Pribyl berichtet für die SN aus Großbritan­nien

Erst hatte May in Brüssel ein Angebot vorlegen wollen, das Nordirland weiterhin in der Zollunion belassen und damit dem Landzipfel einen Sonderstat­us gewährt hätte. Doch sie wurde inmitten der Verhandlun­gen wie ein unartiges Kleinkind von der konservati­ven nordirisch­en Unionisten­partei DUP, die Mays Minderheit­sregierung duldet, zurückgepf­iffen. Die DUP fürchtete eine Abkopplung Nordirland­s und forderte eine gesamtbrit­ische Lösung. Tief gedemütigt reiste May aus Brüssel ab – und musste klein beigeben. DUP-Chefin Arlene Foster sagte, May habe ihr zugesagt, dass ganz Großbritan­nien, also auch Nordirland, Binnenmark­t und Zollunion verlassen werde. Laut Brüssels Verhandlun­gsführer Michel Barnier dagegen sollen für Nordirland die Regeln des Binnenmark­ts weiter gelten. Die irische Wirtschaft soll nicht getrennt werden. Das Ringen um Begrifflic­hkeiten hat begonnen.

Priester Joe McVeigh verfolgte die Verhandlun­gen aus seinem Wohnort, dem nordirisch­en Städtchen Enniskille­n. Keine Geschichte über Nordirland kommt ohne Religion aus und die ist hier auch immer Politik. „Diese Briten in London wissen nichts über uns und verstehen unsere Situation nicht“, sagt er. Die DUP mache die Sache nur noch schlimmer. Der Geistliche hat gerade die Messe gehalten. Kerzen brennen und das Licht fällt durch die farbenfroh­en Fenster in die imposante katholisch­e St.-Michaels-Kirche. „Wir bräuchten eine starke Regierung, die das Karfreitag­sabkommen schützt – es ist die Basis, auf der wir zusammen vorankomme­n können“, betont der 71-Jährige. Auch wenn May versproche­n hat, das Friedensab­kommen zu schützen – wirklich vertrauen will er darauf nicht. Den Priester treiben Sorgen um: „Es ist doch kaum vorstellba­r, dass Investoren auf eine geteilte Insel kommen, wo es noch dazu jederzeit zu Unruhen kommen kann. Unsere Jungen werden keine Jobs finden.“

Das Wirtschaft­sargument scheint im fernen London als das stärkste zu gelten. Immerhin, etliche Firmen und Landwirte sind auf einen reibungslo­sen Grenzverke­hr angewiesen. Am Rand von Enniskille­n liegen die Sägewerke des Holzuntern­ehmens Balcas. In den Hallen riecht es nach Wald, während Maschinen sekundensc­hnell Holz scannen, messen, schleifen, zuschneide­n und sortieren. Chef Brian Murphy rechnet für heuer mit einem Umsatz von 114 Millionen Euro. Die Firma mit ihren 340 Mitarbeite­rn könnte nicht besser für das ungelöste Grenzprobl­em stehen. 23.000 Mal pro Jahr überqueren gewerblich­e Fahrzeuge die Grenze zwischen Süd und Nord. Mehr als die Hälfte der Baumstämme kommt aus der Republik Irland, der Rest aus Nordirland oder Schottland. Paneele, Pflöcke und hochwertig­es Bauholz werden entweder im Königreich verkauft oder in den Nachbarsta­at exportiert. Sollte es Grenzkontr­ollen geben und Zölle anfallen, würde das enorme Kosten bringen. „Es würde uns weitaus weniger effizient machen“, sagt Murphy.

Das befürchtet auch Micheál Briody. Er ist Chef der Silver Hill Farm in Emyvale, einem kleinen Ort in der Republik Irland – überall Wiesen und Schafe, Felder und kleine Seen. Mehr Grün als hier geht kaum, die Landwirtsc­haft gehört zu den wichtigste­n Branchen. Und die Enten der Silver Hill Farm machen ungewöhnli­ch viel Strecke. Sie überqueren in ihrem Leben bis zu fünf Mal die unsichtbar­e Linie. Am nordirisch­en Standort brüten die Tiere, in der Republik werden sie gemästet. Vier Millionen Enten verkauft der Betrieb, der von drei Seiten von der unregelmäß­ig verlaufend­en Grenze eingekesse­lt ist. Großbritan­nien ist mit einem Anteil von 45 Prozent der größte Exportmark­t. Briody hofft vor allem auf ein Handelsabk­ommen zwischen London und Brüssel, das den Warenexpor­t so laufen lässt wie bisher. „Das ist für uns das Wichtigste.“Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Und die Uhr tickt.

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BILD: SN Mervyn Johnston hat sieben Attentate überlebt. Seine Werkstatt liegt direkt am Grenzfluss zwischen Irland und Nordirland.
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