Überschattet vom Ruhm der Stillen Nacht
Als Botschafter eines einzigen Liedes sind die Rainer-Sänger berühmt. Dabei wirkte ihr Erfolg viel weiter nach – bis hin zu „Sound of Music“.
SALZBURG. Sie tourten durch England und Amerika und hatten Lieder im Gepäck, die auf der anderen Seite des Atlantiks zu Hits wurden: Vieles an der Geschichte der Tiroler Rainer-Sänger lässt an Biografien moderner Popstars denken. Im 19. Jahrhundert klang ein Welthit aus den Alpen freilich eher so: „Wir kommen aus Tirol, kommen übers Meer, jetzt sind wir in Amerika, um dieses große Land zu sehen: Holde-roi, hol-de-roi, ha-ha-ha-ha!“
So lautet (rückübersetzt ins Deutsche) die erste Strophe des Liedes „The Tyrolese in America“. Ein Notenheft mit diesem Titel und anderen „Celebrated Melodies of the Rainer Family“war 1849 in den USA ein Verkaufsschlager. Die Schallplatte war ja noch nicht erfunden. Auf ihren Erfolg bei weiblichen Fans konnten sich die Tiroler aber auch ohne Tonträger einen Reim machen: „But the lovely ladies, We should like to please; They are so friendly and kind to us Tyrolese“, heißt es in der dritten Strophe.
150 Jahre danach ist von der Sängerfamilie, die in mehreren Generationen international unterwegs war, meist nur noch in Zusammenhang mit einem anderen Hit die Rede: Als Hauptakteure bei der globalen Verbreitung des Weihnachtsliedes „Stille Nacht!“genießen die Rainers (ebenso wie die Familie Strasser) nachhaltigen Ruhm. Das sei eigentlich schade, sagt die Innsbrucker Musikwissenschafterin Sandra Hupfauf. Denn viele spannende Seiten ihres Schaffens seien vom Trubel um „Stille Nacht!“überschattet.
Für ein Forschungsprojekt hat Hupfauf das Repertoire und die Reisen zweier Rainer-Generationen untersucht. Die Ergebnisse hat sie in einem Buch über die „Lieder der Geschwister Rainer und ,Rainer Family‘“veröffentlicht.
Ausgangspunkt sei die Tatsache gewesen, „dass ihr Repertoire bisher kaum erschlossen war“. Und dies, obwohl der Einfluss ihrer Lieder bis heute vielfach nachwirke: „Zum Beispiel trugen ihre Reisen in einer Anfangszeit des alpinen Tourismus sehr viel zum Tirol-Bild in der Welt bei.“Und weil sie auch das Jodeln erstmals international vermarkteten, schufen sie sogar ein Urmodell für das Genre der volkstümlichen Musik. „All das wollten wir uns anschauen.“
Im Zuge der Recherche sei dann aber auch manche „Stille Nacht!“Legende in neuem Licht erschienen. Etwa jene, dass die Urformation der Rainer-Sänger das 1818 in Salzburg komponierte Lied bereits 1822 im Schloss Fügen für die Monarchen Franz I. und Alexander I. sangen. Wäre die Legende nachweisbar, könnte sie den frühesten Beleg für eine Internationalisierung des Liedes liefern.
Was der Faktencheck ergab? Kaiser und Zar befanden sich zwar 1822 auf der Durchreise in Schwaz und im Zillertal. „Allerdings war das Anfang Oktober.“Ob zu der Jahreszeit „Stille Nacht!“gesungen wurde, sei fraglich. Vielleicht erklang das Lied stattdessen Ende Dezember, als sich die Monarchen auf der Rückreise wieder in Tirol einfanden? Auch das sei nicht undenkbar, sagt Hupfauf. Doch als die Geschwister Rainer 1827 im Vorwort eines Liederbuchs an den Auftritt vor Kaiser und Zar erinnerten, „erwähnten sie andere Lieder, aber von ,Stille Nacht!‘ ist keine Rede“.
Auf Fragezeichen stieß Hupfauf auch, als sie anhand von Zeitungsannoncen und Berichten die erste große USA-Tournee nachvollzog, mit der die zweite Rainer-Generation 1839–1843 Erfolge feierte. Zu Weihnachten 1839 soll die „Rainer Family“in New York vor dem Alexander Hamilton Monument ebenfalls „Stille Nacht!“gesungen haben. Diesmal widersprachen zumindest die Daten der Legende nicht: „Tatsächlich wohnten die Rainers damals ganz in der Nähe des Ortes, die Wahrscheinlichkeit, dass sie dort ,Stille Nacht!‘ sangen, ist also gegeben. Belegbar ist allerdings auch sie nicht.“
Der größte Hit, den das Ensemble damals in den USA verzeichnete, hatte aber mit Weihnachten nichts zu tun. Er hieß „Der Schweizerbua“und war „damals das meistrezipierte deutsche Lied in den USA“.
Dass Tiroler Sänger von der Schweiz sangen, sei indes nicht ungewöhnlich: In der Hitparade der touristischen Alpenparadiese lag die Schweiz knapp vor Tirol. Umgekehrt führte das gut vermarktbare Image der Tiroler zwischen lustiger Sangesfreude und kämpferischem Freiheitsdrang bald dazu, „dass sich auch Salzburger, Bayern oder Steirer als ,echte Tyroler Sänger‘ verkauften“, sagt die Forscherin.
Ein spannendes Detail von Hupfaufs Recherchen: Als 100 Jahre nach der „Rainer Family“die singende Familie Trapp aus Salzburg in Amerika Furore machte, war das Tiroler Vorbild immer noch präsent. Im Advent 1954 erschien in einer US-Zeitung ein Vorbericht auf ein Konzert der „Trapp Family Singers“im Bundesstaat New York. „Stille Nacht!“stand auch auf dem Programm. In dem Artikel wurde nicht nur betont, dass die Trapp-Familie im „traditionellen Gewand ihrer Tiroler Berge“auftrete und dass „Stille Nacht!“einst von den Rainer-Sängern nach Amerika gebracht worden sei. „Maria von Trapp wird da sogar als Nachfahrin der Rainer-Familie bezeichnet“, sagt Hupfauf. Tatsächlich kam Maria von Trapps Mutter aus Tirol und hieß mit Mädchennamen Augusta Rainer.
Buch: Sandra Hupfauf: „Die Lieder der Geschwister Rainer und ,Rainer Family‘ aus dem Zillertal (1822–1843)“. Ergänzt u. hg. von Thomas Nußbaumer, Universitätsverlag Wagner 2016.