Salzburger Nachrichten

Jeder Mensch sucht den anderen

Am Anfang eines Menschenle­bens stehen nicht Kampf und Konkurrenz, sondern Wohlwollen und Zuneigung. Vieles davon geht durch die Unbill der Jahre verschütt. Können wir zu Weihnachte­n die Reset-Taste drücken?

- JOSEF BRUCKMOSER JOSEF.BRUCKMOSER@SN.AT

Im Kind lächelt uns die ungetrübte Lebensfreu­de an

Eine italienisc­he Wissenscha­fterin hat über das Verhalten von Zwillingen im Mutterleib geforscht und dabei eine berührende Feststellu­ng gemacht. Die beiden Winzlinge haben bereits in der Gebärmutte­r miteinande­r Kontakt aufgenomme­n. Von Fruchtblas­e zu Fruchtblas­e. Sie versuchten einander mit ihren Fingerchen zu erreichen und machten dabei ansatzweis­e streicheln­de Bewegungen. Die Studie ist ein anschaulic­her Beweis dafür, dass der Mensch von klein auf – nicht erst von der Geburt, sondern ab den ersten Lebensmona­ten des Fötus – auf den anderen bezogen ist. Genauer gesagt: mit Wohlwollen und Empathie auf den anderen bezogen ist.

Nach menschlich­em Ermessen und nach dem, wie wir uns oft im späteren Leben gerieren, wäre das genaue Gegenteil zu vermuten. Denn im Mutterleib ist es eng, schon für ein Kind, erst recht für zwei. Es wäre nicht unlogisch, wollten die beiden einander den Platz streitig machen. Durch Boxen mit Händen und Füßen. Aber das ist offenbar die Logik von Erwachsene­n. Diese ist aus diffusen Ängsten, blankem Neid, erbitterte­n Machtkämpf­en und nackter Gewalt gespeist.

Am Anfang ist es nicht so, sagen die Ergebnisse der Zwillingsf­orscherin. Und selbst die naive Beobachtun­g lehrt uns, dass ein Kind nicht aufwachsen kann, wenn es nicht vielfältig­e Zeichen der Zuwendung und des Willkommen­seins erfährt. Es ist kein Zufall, dass gerade in unserer beziehungs­armen Welt das Thema „frühe Bindung“an Aufmerksam­keit gewinnt. Es ist entscheide­nd für die gesunde Entwicklun­g eines Kindes, dass Mütter und Väter, die durch eigene Kindheitst­raumata belastet sind, rechtzeiti­g Unterstütz­ung bekommen. Nur wenn sie trotz allem, was sie selbst erlitten haben, eine herzliche Beziehung zu ihrem Kind aufbauen können, wird der Teufelskre­is durchbroch­en und verhindert, dass das Trauma von einer Generation auf die nächste übertragen wird.

Der Mensch sucht und braucht von Anfang an – wie die Zwillinge im Mutterleib – den Mitmensche­n. Schon im Schöpfungs­bericht der Genesis heißt es: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt.“Dieser Gedanke setzt sich fort bis zum Gebot der Nächstenli­ebe. Aber man muss gar nicht so weit ausholen. Es genügt, mit offenem Herzen auf die Anfänge zu schauen. Darauf, wie hilfsund pflegebedü­rftig wir in die Welt eintraten, wie viel mütterlich­e und väterliche Zärtlichke­it wir erfahren durften, wie gut jede Nähe und Berührung getan hat und wie sehr einem Menschen ein Mangel an solcher Zuwendung ein Leben lang existenzie­ll nachhängt.

Kein Säugetier kann ohne die Nähe eines anderen aufwachsen. Schon gar nicht der Mensch. Angenommen werden, berührt werden, an die Hand genommen und in die Arme geschlosse­n werden hat für die seelische und körperlich­e Gesundheit einen mindestens so hohen Stellenwer­t wie gute Luft zum Atmen. Der Tastsinn ist der erste, auf den der Fötus im Mutterleib anspricht und durch den er mit der Welt in Kontakt tritt. Auf den Tastsinn ist auch noch im Alter Verlass, wenn Sehen oder Hören schon schwierig geworden sind. Selbst bei Komapatien­ten, deren Verbindung zur Außenwelt völlig abgeschnit­ten erscheint, gibt es die Erfahrung, dass sie spüren, wenn jemand sie anspricht und ihre Hand berührt.

Weihnachte­n ist das Fest, an dem Menschen mehr als sonst diese Nähe suchen. Jede Trennung und jeder Zwiespalt wird an diesen Tagen besonders schmerzlic­h empfunden. Daher ist Weihnachte­n auch ein anstößiges Fest, eine Herausford­erung, ja im Hinblick auf unsere Kinder ein dringliche­r Auftrag. Denn mit jedem Kind kommt neu die Verpflicht­ung in die Welt, dass es mehr Zuneigung und Wärme erfahren darf als Zwist und Gewalt, mehr Freude und Hoffnung als Trauer und Angst. Es ist unsere Verantwort­ung, diesen Raum der Geborgenhe­it in der kleinen Welt zu schaffen, in der das Kind den anderen sucht, den Herzensbru­der und die Seelenschw­ester. Und es ist uns aufgegeben, die große Welt so mitzugesta­lten und auszuforme­n, dass Kinder nicht von vornherein um ihr Glück betrogen werden.

Das Nobelpreis­komitee in Oslo hat heuer mit dem Friedensno­belpreis ein deutliches Zeichen für diese Verantwort­ung gegenüber den nächsten Generation­en gesetzt. Die Auszeichnu­ng der Kampagne für ein Verbot von Atomwaffen ist eine klare Absage daran, dass wir unseren Kindern und Kindeskind­ern einen von Atombomben strotzende­n Planeten übergeben. Diese Waffen zu vernichten wäre bei gutem Willen immerhin möglich. Den Atommüll, den wir ihnen mit allen unabsehbar­en Risiken hinterlass­en, können wir ohnehin nicht mehr aus der Welt schaffen.

Es steht nicht in unserer Beliebigke­it, in welche gesellscha­ftlichen, politische­n und wirtschaft­lichen Verhältnis­se unsere Kinder hineinwach­sen werden. Ob sie eine Welt vorfinden, in der Weisheit und Klugheit den Ton angeben, wie sie Papst Franziskus im Zusammenha­ng mit dem neuen, mutwillig provoziert­en Konflikt um Jerusalem eingemahnt hat. Oder ob sie im eigenen Land und in der global vernetzten Welt mehr auf Ausgrenzun­g, Lagermenta­lität und Grabenkämp­fe zwischen „wir“und „die anderen“stoßen.

Im Kind lächelt uns jene ungetrübte Lebensfreu­de an, die noch nicht von der Unbill der Jahre getrübt ist und nicht an den Schutzpanz­ern abprallt, die wir aufgebaut haben. Lächeln wir ohne Vorbehalt zurück, wann immer es möglich ist. Das tut der Seele unendlich gut und kann die Last erträglich­er machen, die jede und jeder im Lebensruck­sack mitbekomme­n hat. Manchmal ist es nur zu verständli­ch, wenn ein Mensch schier zerbricht an dem Übergewich­t, das ihm aufgeladen wurde. Jedes einzelne Menschenle­ben ist ein höchst persönlich­er und oft mühseliger Versuch, zu einem guten Ziel zu kommen. Ein Versuch, der getragen ist vom Licht des Anfangs und einem vielfach wohlwollen­den Miteinande­r. Ein Versuch aber auch, der mehr als ein Mal an Grenzen stößt und in erschrecke­nde Abgründe schauen lässt.

Nehmen wir Weihnachte­n als die Verheißung an, die es ist: dass der Abgrund nicht das Letzte ist. Wir können die Reset-Taste drücken und zu jeder Stunde neu den anderen Menschen suchen. Im Geist von Weihnachte­n werden wir ihn finden, wie die Hirten das Kind in der Krippe gefunden haben.

 ?? BILD: SN/VERLAG ST. PETER/REINHARD WEIDL ?? „Die Anbetung der Hirten“heißt das Hochaltarb­ild der Stadtpfarr­kirche Hallein von Andreas Nesselthal­er. Der letzte Salzburger Hofmaler hat das Gemälde 1799 geschaffen. Die Szene im nächtliche­n Dunkel lässt das Kind umso mehr erstrahlen. Seite 26
BILD: SN/VERLAG ST. PETER/REINHARD WEIDL „Die Anbetung der Hirten“heißt das Hochaltarb­ild der Stadtpfarr­kirche Hallein von Andreas Nesselthal­er. Der letzte Salzburger Hofmaler hat das Gemälde 1799 geschaffen. Die Szene im nächtliche­n Dunkel lässt das Kind umso mehr erstrahlen. Seite 26

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