„Wir haben ein Innehalten verlernt“
Weil wir stark auf die Zukunft fixiert seien, verspürten wir in der Gegenwart ein Ungenügen, sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann. Warum konservative Parteien mit „Zeit für Neues“punkten und Weihnachten Sicherheit vermittelt.
Die Zeit. Sie begleitet uns von der Geburt bis zum Tod, sie ist kostbar, subjektiv erlebbar, wird oft vergeudet und ist nicht zu stoppen. Philosophen beschäftigen sich seit jeher mit dem Phänomen Zeit. „Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen“, wusste schon der römische Denker Seneca der Jüngere. Das Vergehen der Zeit rückt insbesondere zu Weihnachten und dem bevorstehenden Jahreswechsel stärker in den Blickpunkt. Ein SNInterview mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann. SN: Sie haben einmal gesagt: „Wir können die Gegenwart nicht ertragen und deshalb die Zukunft nicht erwarten.“Stimmt dieser Befund noch? Falls ja: Warum ist das so? Konrad Paul Liessmann: Ja, der Befund stimmt noch immer. Es ist ein Grundcharakteristikum einer modernen Gesellschaft, dass sie zukunftsorientiert ist und die Gegenwart infrage stellt. All das, was früher bei Religionen angesiedelt war, projizieren wir jetzt in die Zukunft: positive Utopien, paradiesische Vorstellungen, aber auch Negatives, wie Ängste und Befürchtungen. Wir stellen uns vor, was alles in der Zukunft passieren wird, und halten es deshalb in der Gegenwart nicht mehr aus. Generell ist zu sagen, dass die Zeit durch die Gesellschaft und Realitäten vorstrukturiert ist. SN: Unsere Gesellschaft ist in vielen Bereichen Beschleunigungstendenzen ausgesetzt. Was zu Gegenbewegungen – etwa dem Verein zur Verzögerung der Zeit – geführt hat. Ist Beschleunigung a priori schlecht? Mit dem Begriff Beschleunigung habe ich in diesem Zusammenhang meine Zweifel, ob er passend ist. Wir sprechen von einer sozialen Entwicklung und verwenden einen physikalischen Begriff. Es ist klar,
„Moderne Gesellschaften drängen auf Bewegung, auf Veränderung“, sagt Konrad Paul Liessmann.
dass heute bestimmte Dinge schneller erledigt werden können, aber letztlich ist diese Beschleunigung eine Selbsttäuschung. Die Menschen werden nicht schneller, es gibt natürliche Grenzen. Aber moderne Gesellschaften drängen auf Bewegung, auf Veränderung. Es ist interessant, dass in der österreichischen Politik ausgerechnet konservative Parteien „Es ist Zeit für Veränderung“, „Zeit für Neues“gefordert haben. Das ist mehr als Politikmarketing, das trifft eine Grundbefindlichkeit des Lebens, zumal wir die wirklich wichtigen Dinge in der Zukunft angesiedelt haben. Es ist für die Politik freilich eine Gratwanderung. Denn: Vielen geht es ja gut – dem Mittelstand etwa –, viele wollen eigentlich nicht, dass sich etwas ändert. Aber man darf es so nicht sagen. Die Politiker müssen also beide Seiten ansprechen können. SN: Trotz technischer Errungenschaften, die im Alltag vieles beschleunigen, haben immer mehr Menschen subjektiv weniger Zeit … Jeder Mensch hat am Tag 24 Stunden zur Verfügung, es ist nur die Frage, was man in dieser Zeit macht: Welche Prioritäten setze ich? Was würden viele Menschen tun, wenn sie subjektiv mehr Zeit hätten? Vermutlich noch mehr FacebookFreunde suchen und diese mit Nachrichten belästigen. Das erschöpft sich dann in einem uninspirierten Zeit-Füllen. Die Freizeit wird vollgeräumt mit Zerstreuungen wie Video, TV, Kino oder sozialen Medien. Meine These: Wir haben so viel Zeit mittlerweile, dass es eine panische Angst davor gibt, dieser Zeit allein ausgesetzt zu sein. SN: Ist es nicht auch ein Problem, dass in einer säkularisierten Gesellschaft die Menschen dazu tendieren, alles in das irdische Leben hineinstopfen zu wollen? Natürlich. Es geht um die Frage, wie viel bringe ich da unter. Man ist offen für eine Vielzahl an Versprechungen. Es gibt da normative Vorgaben, wir wollen möglichst viele Städte besucht haben, möglichst viele Erfahrungen gemacht haben. SN: Gegen Ende des Jahres gibt es viele Jahresrückblicke, man besorgt sich neue Kalender, feiert Silvesterpartys. Gibt es in diesen Tagen ein verstärktes Zeitbewusstsein oder ist das nicht alles ein Event? Gerade zu Weihnachten und zu Silvester rückt das zyklische Zeitmodell in den Vordergrund. Wenn Weihnachten vorbei ist, weiß man, das Fest kommt in einem Jahr wieder. Das gibt eine gewisse Sicherheit und hat – ebenso wie die Einteilung in Jahreszeiten – eine beruhigende Wirkung. Wer ständig nur dem Neuen ausgesetzt wäre, würde jede Orientierung verlieren. Weihnachten bringt so viel Wiedererkennbares mit sich: vom Weihnachtsbaum bis zu den Familienritualen. Das hat jetzt nicht unbedingt mit einer Eventisierung zu tun. Zeit ist eine lineare Bewegung, aber es gibt eben auch die ewige Wiederkehr des Gleichen. SN: Der Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus hat die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft als die drei Dimensionen unserer Innerlichkeit bezeichnet. Welche Gewichtung würden Sie in Hinblick auf diese Dimensionen empfehlen? Wir haben insgesamt zu wenig Gegenwartsbewusstsein, was auf der anfangs erwähnten Zukunftsfixiertheit basiert. Uns fehlt in der Gegenwart auch eine gewisse Gelassenheit. Wir haben ein Innehalten verlernt. Ein Beispiel aus meinem Leben: Wenn ich ein neues Buch veröffentliche und dazu von Journalisten befragt werde, kommt, noch bevor ich über den Inhalt des Buches Auskunft geben soll, die Frage: „Was kommt als Nächstes?“Das Zukünftige ist immer wichtiger als das, was gegenwärtig ist. Wir haben es da mit einer eigenartigen Hektik zu tun. SN: Zurück zu Augustinus. Laut ihm fließt Zeit aus der Zukunft durch die Gegenwart in die Vergangenheit … Für ihn ist die Vergangenheit nichts anderes als Erinnerung. Gegenwärtigkeit definiert er als bewusstes Erleben unserer Unmittelbarkeit. Und unsere Erwartungen und Hoffnungen halten wir für Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind als solche nicht erlebbar. Alles, was wir Erinnerungskultur, das Aufarbeiten und Rekonstruieren nennen, spielt sich im Jetzt ab. Die Vergangenheit führt zu Problemen in der Gegenwart. SN: Sind nicht Vorstellungen, die ich mir jetzt gerade mache, kurz darauf Vergangenheit? Ich würde den Beginn unseres Gesprächs noch nicht unter Vergangenheit einordnen, sondern als gegenwärtig bezeichnen. Aber wenn es im Archiv der SN aufrufbar ist, dann ist es endgültig vergangen. Konrad Paul Liessmann:
„Es gibt eine panische Angst davor, der Zeit allein ausgesetzt zu sein.“