Eine Speisekarte ist ein Kulturgut und kein Wühltisch
Speisekarten sagen oft mehr über eine Region aus als polierte Gedenktafeln. Deshalb sollten sie schlank und charmant bleiben.
Speisekarten sind so alt wie der Trieb des Menschen zur Darstellung seines Selbst. Schon die Sumerer ritzten die Namen feiner Speisen in Tontafeln, um eine kulinarische Identität zu schaffen. Die Griechen und Römer taten das auf Wachstafeln und Papyrus. Recht volkstümlich las sich auch eine Menüfolge aus dem altorientalischen Kalhu. Historiker fanden heraus: Mit Fast Food hatte damals keiner was am Hut. Da wurden 879 v. Chr anlässlich der Eröffnung des königlichen Palasts 69.574 Gästen schriftlich ein zehntägiges Buffet angepriesen.
In unseren Breiten wurden die Speisen noch bis ins Mittelalter ausgerufen. Erste Speisekarten erfüllten dann auch eher die Funktion von Gedächtnisstützen. So wie bei einem Fest des Herzogs von Braunschweig im Jahr 1541. Ein Beobachter notierte: Ein langer zedel bei ihm auf der tafel ligen that, den er öftersmal besah. Darin hat ihm der Küchenmayster alle esen und trachten (Speisenfolge, Anm.) ufgezeichnet.
Als erste Speisekarte Österreichs gilt der Kuchenzeddel mit Tariffen des „Roten Apfel“in Wien. Dieser gab 1784 Auskunft darüber, was ein Gast und Passagier, der mit 4 oder 6 Gerichten bewirthet wird, davor zu geben habe.
All diese Beispiele belegen, dass Speisekarten zu jeder Zeit mehr über eine Region und deren Bewohner aussagten als blank polierte Gedenktafeln. Dem Historiker Lothar Kolmer ist sogar aufgefallen, dass man anhand von Speisekarten wirtschaftliche Krisen vorhersagen könne. Konkret fand er heraus, dass regelmäßig wiederkehrenden kulinarischen Ausschweifungen auf Speisekarten zumeist Zusammenbrüche der Volkswirtschaft folgten.
Heute wird die Speisekarte dagegen immer öfter nur noch als Wühltisch betrachtet. Werbung und Medien üben Druck auf die Gastronomie aus, damit diese möglichst ausufernde Speisekarten gestalten. Da regiert der Trend. Der Verstand hat Pause. Da beginnt aber auch der Teufelskreis. Es gibt Zehnertische, an denen zehn unterschiedliche Hauptgerichte bestellt werden. Und die anderen 20 Gäste üben sich im Variieren. So in der Art: „Bitte das Cordon bleu, aber ohne Gouda, dafür mit Schafkäse, und statt der Erdäpfel Selleriepüree.“Da flippt jeder in der Küche aus. An einem Zehnertisch schafft ein Koch normal vier unterschiedliche Speisen. Darüber hinaus wird es wegen der Herdkapazität chaotisch.
In Frankreich stellt sich dieses Problem nicht. Dort gilt ein Menü mit Freunden noch als Gemeinschaftserlebnis für alle. Und der Patron achtet auf die Manieren. Kürzlich haben wir in einem Pariser Bistro etwa dieses Angebot gelesen: Espresso: 6 Euro; Un Espresso s.v.p.: 4 Euro; Bonjour Monsieur! Un Espresso s.v.p.: 1,50 Euro. Eine Speisekarte ist eben mehr als ein Wühltisch – sie ist ein Kulturgut.