100 Jahre Republik: Auftakt zur großen SN-Jubiläumsserie
1918 leiden die Österreicher Hunger, Kriegsmüdigkeit macht sich breit. Die Spanische Grippe rafft die Menschen dahin. Und im November geht das alte Österreich unter.
Österreich feiert in diesem Jahr das hundertjährige Bestehen der Republik. Am 12. November 1918 wurde vor dem Parlament in Wien die Republik ausgerufen. 640 Jahre Habsburger-Herrschaft gingen damit zu Ende. Die „Salzburger Nachrichten“blicken im Jubiläumsjahr zurück: Wir zeigen, wie die junge Demokratie schon nach wenigen Jahren der Diktatur zum Opfer fiel und wie Österreich nach 1945 den Neustart schaffte. Den Auftakt bildet heute das Jahr 1918, als der Erste Weltkrieg endete und die Donaumonarchie unterging.
Schüsse, Schreie, Panik, Chaos: So beginnt Tag eins der Republik Deutsch-Österreich.
In Wien drängen sich am Nachmittag dieses nasskalten 12. November 1918 rund 150.000 Menschen auf dem Ring. Im Parlament haben die Abgeordneten der Provisorischen Nationalversammlung soeben das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutsch-Österreich beschlossen. Nun begibt sich die Politik hinaus vor das Parlament. Das ist der Moment, in dem sich Franz Dinghofer in den Geschichtsbüchern verewigt: Der Präsident der Provisorischen Nationalversammlung ruft die Republik aus.
Rot-weiß-rote Fahnen werden hochgezogen. Doch Mitglieder der kommunistischen Roten Garde holen sie wieder herunter, reißen den weißen Mittelstreifen heraus und hissen die roten Teile – als Zeichen für den bevorstehenden Umsturz. Dann versuchen Rotarmisten, ins Parlament einzudringen. Schüsse fallen. Eine Massenpanik bricht aus, zwei Menschen werden getötet, Dutzende verletzt. „Frauen weinen und schreien. Männer stoßen sie rücksichtslos zur Seite“, schreibt am Tag danach die „Neue Freie Presse“. „Eine Panik ist ausgebrochen, wie sie aufregender und gefährlicher kaum gedacht werden kann.“Allerdings: Der kommunistische Putschversuch am ersten Tag der Ersten Republik scheitert. Die Angst vor der roten Gefahr, vor einem kommunistischen Putsch, wird freilich bleiben.
Was sich in diesen Novembertagen abspielte, war nichts weniger als eine Revolution. Am 11. November hatte das Deutsche Reich einen Waffenstillstand mit der Entente geschlossen. Die Österreicher hatten schon am 3. November die Waffen gestreckt. Der Große Krieg war vorbei und die Monarchie Geschichte. Absehbar war dieses Ende bereits länger gewesen. Schon zwei Jahre davor, als Langzeitregent Franz Joseph I. starb, sahen viele darin das Vorzeichen für den Untergang des Habsburgerreiches. Mit dem Andauern des Krieges machte sich dann immer mehr Kriegsmüdigkeit breit.
Dass das Ringen gegen die Westmächte noch gewonnen werden kann – daran glaubt 1918 kaum noch jemand. An der Heimatfront nimmt die Unzufriedenheit mit der Regierung täglich zu. Die Arbeiter protestieren gegen hohe Preise und für ein Ende des Krieges. Die „Arbeiterinnen-Zeitung“klagt immer wieder über das harte Los der Frauen. Mütter müssten zwei Drittel des Tages und viele Nachtstunden mit dem Anstellen um Lebensmittel verbringen. Die Regierungen hätten sich allesamt als unfähig erwiesen, den „Lebensmittelskandal“zu beenden, heißt es in der Ausgabe vom 6. August. „Schreien tut der ganze Zustand, in den wir geraten sind, schreien tut das Elend der Mütter, der Hunger der Kinder, die heute gierig nach Abfällen greifen …“
Zwar bemüht sich Kaiser Karl I. um einen Separatfrieden. Doch die Geheimverhandlungen mit Frankreich werden publik, Karl ist blamiert, seine Glaubwürdigkeit zerstört. Auch von der Front kommen Hiobsbotschaften. Eine letzte große Offensive der Österreicher im Sommer am italienischen Kriegsschauplatz endet im Desaster.
Im Oktober ist dann der Zerfall nicht mehr zu stoppen. Die Tschechen und Slowaken sagen sich los, die Ungarn, Polen, Serben, Kroaten und Slowenen. Kaiser Karls Vorschlag, das Reich noch einmal zu reformieren, die Monarchie in einen Bund freier Nationen umzubauen, kommt zu spät.
Am 30. Oktober sagen sich auch die Vertreter Deutsch-Österreichs los von der Monarchie. Den Vorsitz der ersten Regierung übernimmt der Sozialdemokrat Karl Renner. Für ein paar Tage sind zwei Regierungen parallel im Amt – die letzte kaiserliche unter Heinrich Lammasch und der neu gebildete Staatsrat unter Karl Renner.
Die Armee ist längst in Auflösung. Es kommt zu Meutereien und Desertionen. Bei der Vereinbarung über einen Waffenstillstand am 3. November passiert dann noch ein folgenschweres Missverständnis: Die Österreicher stellen die Kämpfe zu früh ein, während die Italiener weiterkämpfen. So kommen 350.000 Österreicher noch in Kriegsgefangenschaft. Am 11. November unterzeichnet Kaiser Karl in Schloss Schönbrunn die Verzichtserklärung. „Nach wie vor von unwandelbarer Liebe für alle Meine Völker erfüllt, will Ich ihrer freien Entfaltung Meine Person nicht als Hindernis entgegenstellen. Im voraus erkenne Ich die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft. Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen. Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften.“
Und schon beginnt der nächste Kampf – jener um die Grenzen des Kleinstaates, der nach dem Zerfall der Großmacht übrig geblieben ist. Anfang November dringen slowenische Truppen in Südkärnten und in der Südsteiermark ein – es ist der Beginn der „Abwehrkämpfe“der Kärntner und Steirer. Die Kriegsheimkehrer, vom Kampf gezeichnet und brutalisiert, stellen ein beträchtliches Sicherheitsrisiko dar. Im Land herrscht noch immer Hunger – und die Angst vor der Spanischen Grippe geht um. Weltweit sterben an der Pandemie mehr als 25 Millionen Menschen, allein in Österreich zählt man bis Jahresende 18.500 Todesopfer. Die Angst vor Ansteckung spiegelt sich in alarmierenden Zeitungsberichten. „Die spanische Krankheit greift in Köstendorf immer weiter um sich“, schreibt die „Salzburger Chronik“am 21. Oktober. „In vielen Häusern sind nahezu alle Personen erkrankt, so daß kaum die dringendste Arbeit verrichtet werden kann.“Die Zeitungen sind voll mit Todesmeldungen. Schulen werden geschlossen, Kinoveranstaltungen untersagt.
Immerhin: Es gibt Fortschritte auf der politischen Ebene. In der Anfangsphase der Ersten Republik arbeiten die großen politischen Lager – Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Großdeutsche – noch zusammen. Frauen erhalten 1918 das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Der Acht-StundenArbeitstag wird beschlossen, bezahlter Urlaub und Arbeitslosenversicherung werden eingeführt, Arbeiter und Angestellte bekommen eine Krankenversicherung. Das Vertrauen in das vom Großreich zum Kleinstaat geschrumpfte Deutsch-Österreich ist dennoch gering. Viele träumen vom Anschluss an Deutschland. Schon im Artikel 2 des Gesetzes über die Staats- und Regierungsform heißt es: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“Doch damit wird Österreich nicht durchkommen, wie sich bald zeigen sollte.
Lesen Sie morgen:
1919: der Friedensvertrag von St. Germain und die Abschaffung des Adels.