Salzburger Nachrichten

Ein Lehrstück von 100 Jahren

1918, das scheint unendlich fern. Aber es ist lehrreich, ein Jahrhunder­t zurückzubl­ättern.

- ALEXANDER.PURGER@SN.AT Alexander Purger

Studiere die Vergangenh­eit, dann kennst du die Zukunft, lehrte Konfuzius. Und Otto Habsburg schrieb, wer nicht aus den Fehlern der Geschichte lerne, sei dazu verurteilt, sie zu wiederhole­n.

Es gibt also gute Gründe, sich mit der Geschichte zu beschäftig­en. Und gute Anlässe. Im Jubiläumsj­ahr 2018 widmen sich die „Salzburger Nachrichte­n“ausführlic­h der Geschichte der Republik Österreich. Zwei Mal pro Woche wollen wir ein Jahr dieser einhundert­jährigen wechselvol­len Geschichte beleuchten, und das in möglichst vielen Facetten.

Die Zeitreise beginnt heute auf den Seiten 2 und 3 mit dem Jahr 1918. Die Fotos aus dieser Zeit sind schwarz-weiß, die Ereignisse scheinen unendlich lang her zu sein und unendlich fern. Die Zeitungen waren 1918 voll mit Berichten über Hungerkraw­alle, über verzweifel­te Mütter, die Geschäfte plünderten, um Brot und Milch für ihre unterernäh­rten Kinder aufzutreib­en. Heute bringen die Zeitungen Abnehmtipp­s für Mensch und Hund. Und Berichte über die Unmengen an weggeworfe­nen Lebensmitt­eln.

1918 hielt kaum jemand das klein gewordene Österreich für lebensfähi­g. Heute ist unser Land ein Magnet für Menschen aus aller Welt. 1918 erlebte Österreich einen historisch­en Umbruch und das Ende von 600 Jahren Habsburger-Herrschaft. Heute werden schon Weltcupsie­ge von Skifahrern mit dem schmückend­en Beiwort „historisch“versehen.

Auch die Rolle des Staates hat sich in den hundert Jahren grundlegen­d verändert. Damals war er tatsächlic­h das, was heute „schlanker Staat“genannt wird. In Zeiten der Monarchie wurde bereits eine Einkommens­steuer von 0,5 Prozent als Gipfel der Enteignung angesehen. Heute liegt die Abgabenquo­te bei 43 und der Spitzenste­uersatz bei 55 Prozent.

Mit der finanziell­en Dotierung des Staates wuchsen seine Aufgaben. 1918 steckte der Sozialstaa­t noch in den Kinderschu­hen, viele Menschen hungerten und froren. Heute fließen mehr als 30 Prozent der Wirtschaft­sleistung ins Sozialwese­n. Die Sozialausg­aben betragen über 100 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz: Jahr für Jahr steigend. Schon ein Bremsen des Anstiegs gilt heute als soziale Kälte.

Sich diese Veränderun­gen hin und wieder vor Augen zu führen ist überaus lehrreich. Ingeborg Bachmann sagte zwar, die Geschichte lehre ununterbro­chen, aber sie finde keine Schüler. Doch wenn man die so positive Entwicklun­g Österreich­s in den vergangene­n hundert Jahren betrachtet, war diese Bemerkung eindeutig zu pessimisti­sch.

Newspapers in German

Newspapers from Austria