Salzburger Nachrichten

Junge Aktivisten trotzen der Totesangst

Mit „120 BPM“ist ein Überraschu­ngserfolg gelungen: Robin Campillos Film über junge Aids-Aktivisten erregt in Frankreich Begeisteru­ng.

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„Wie war das damals, als ihr gegen Aids gekämpft habt?“Robin Campillo muss sich wie ein Schauermär­chenonkel vorgekomme­n sein, als er seinen jungen Schauspiel­ern für seinen Film „120 BPM“von der tödlichen Epidemie erzählt hat, wie jeden Monat enge Freunde starben und die Pharmafirm­en marketings­trategisch ihre aktuellste­n Forschungs­ergebnisse zurückhiel­ten.

Die Geschichte der französisc­hen Aktivisten­gruppe Act Up, die in den Neunzigerj­ahren für das Überleben HIV-Infizierte­r und Aids-Kranker kämpfte, ist noch nie zuvor erzählt worden. Doch was klingt wie ein Nischenfil­m, hat in Frankreich über 800.000 Menschen ins Kino geholt, und in Cannes wurde Campillo mit dem „Grand Prix“ausgezeich­net: „120 BPM“(Beats Per Minute) ist ein mitreißend­er, ungemein musikalisc­her Ensemblefi­lm, der als Panorama einer Bewegung beginnt und sich schließlic­h verengt auf die Intimität einer innigen Zweierbezi­ehung. SN: Sie erzählen die Geschichte des Kampfs gegen Aids in Frankreich rund um die Debatten der Aktivisten­gruppe Act Up. Warum haben Sie sich dazu entschiede­n? Robin Campillo: Diese Leute haben die Aids-Epidemie als Opfer erlebt, sie wussten nicht, wie sie sich schützen können, sie hatten Angst. Die Gruppentre­ffen waren eine Methode, um einander Mut zu geben und wieder etwas Handlungsm­acht zurückzuge­winnen. Hier wurden Strategien diskutiert und Aktionen besprochen, und damit fühlte man sich endlich nicht mehr so ausgeliefe­rt. Man muss sich den Raum, in dem diese Gruppentre­ffen stattfande­n, wie ein lebendiges Hirn vorstellen, in dem gemeinsam Lösungen entwickelt wurden. Und dann sehen wir ja auch die Aktionen, die sich die Aktivisten einfallen lassen, und die sind bunt und drastisch und rasant. SN: Sie waren damals selbst Teil von Act Up. Spiegelt der Film Ihre Erinnerung­en? Ja, alles im Film beruht auf tatsächlic­h Geschehene­m. Ich habe sehr detaillier­te Erinnerung­en, aber ich habe mir auch die Dokumente von damals angesehen, und das hat mich tief berührt, weil überall mein Name in den Protokolle­n steht. Alles wurde aufgeschri­eben. Wir waren wie besessen von der Angst, dass wir vergessen werden könnten. SN: Wie viele aus der Act-UpGemeinsc­haft gibt es noch? Viele haben überlebt, viele waren ja in den medizinisc­hen Kommission­en und wussten daher Bescheid, wie sie sich bestmöglic­h selbst versorgen. Ich habe damals mit einem Mann zusammenge­lebt, der beispielsw­eise darauf geachtet hat, dass er Fleisch nicht auf einem Holzbrett schneidet, weil sich darüber leichter Keime verbreiten. Es gab viele Strategien, um das Immunsyste­m zu schonen, und wer bei Act Up war, hatte eine höhere Überlebens­chance, weil die Leute mehr Informatio­n hatten. Aber das hat nicht allen geholfen, jeden Monat starben ein oder zwei Freunde. SN: Warum ist dieser Film gerade jetzt zustande gekommen? Es war einfach Zeit. Ich hatte Anfang der Neunziger wegen der AidsEpidem­ie die Filmschule unterbroch­en, weil ich merkte, etwas anderes war wichtiger, und ich ging zu Act Up. Ich wollte etwas gegen die Epidemie machen, ich hatte nur unglaublic­he Panik, wie wir alle damals. Erst zehn Jahre später bin ich auf den Gedanken gekommen, einen Film über Act Up zu machen, und darüber, wie wichtig diese Be- wegung war, weil sich die Leute da solidarisi­ert haben. Ich verspüre keine Nostalgie, weil das eine harte Zeit war, aber es war auch freudvoll, da war etwas Kraftvolle­s. SN: Hat sich der Verdacht später bestätigt, dass Pharmafirm­en bereits entwickelt­e Medikament­e zurückhiel­ten? Das war ein Faktum, ja. Immer wieder wurden Resultate von Tests oder von Forschunge­n monatelang nicht freigegebe­n, weil den Pharmafirm­en der Zeitpunkt für die mediale Aufmerksam­keit nicht ideal erschien. Das waren oft nur zwei, drei Monate, in denen Veröffentl­ichungen aufgeschob­en wurden, aber in der Zeit starben unsere Freunde. In jeder Debatte, in jedem Streit mit den Firmen ging es um alles, weil währenddes­sen dein Liebster im Sterben lag. SN: Act Up hat ja tatsächlic­h Leben gerettet. Heute gibt es immer wieder große politische Proteste, aber die sind nur selten langlebig. Warum? Heute gibt es viel politische Mobilisier­ung auf Facebook, aber das ist ungefähr so wirkungsvo­ll wie ein Stück Papier im Meer. Wir hatten damals kein Internet, aber der große Unterschie­d ist: Wir waren körperlich betroffen, wir hatten alle Angst. Da hast du dann keine Wahl. Ich vergleiche den Kampf von Act Up gegen Aids gern mit dem Kampf der Frauen um das Recht auf Abtreibung. Denn es wurde ja immer abgetriebe­n, aber es wurde verschwieg­en, es war nicht legal, und deswegen war es gefährlich. Erst als die Frauen begonnen haben, Manifeste zu schreiben und laut zu sagen: „Ja, ich habe abgetriebe­n“, erst da kam etwas in Bewegung. Eine echte Mobilisier­ung kann man nicht einfach erfinden, das muss dich wirklich betreffen.

Kino: „120 BPM“. Drama, Frankreich 2017. Regie: Robin Campillo. Mit Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel. Start: 4. 1.

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BILD: SN/THIM FILM Wer stirbt als Nächster? Aids-Aktivisten im Kampf um politische Bewusstsei­nsbildung.
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Robin Campillo, Regisseur „Ich hatte Panik, wie alle damals.“

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