Mit den Augen hören
In Bogotá gibt es ein Café für Gehörlose – und jene, die ihre Welt kennenlernen wollen. Willkommen sind auch jene, die hören. Ein bisschen Gebärdensprache zu können ist hilfreich.
BOGOTÁ. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein normales gemütliches Café: ein schmaler, lang gezogener Raum, der sich nach hinten verbreitert, Bücherregale, Sofas. Eine lange Bar. Das Café ist an einem Samstagabend gut gefüllt, aber man hört fast keine Stimmen. Dafür ist die Musik ein wenig zu laut. An den Holztischen sind große Schalter angebracht, darüber hängen Glühbirnen. Wer bestellen will, ruft den Kellner, indem er den Schalter umlegt und es leuchten lässt. Denn wenn der Gast im Café Sin Palabras in Bogotá einen Kaffee oder ein Bier wünscht, dann kommt er mit Worten nicht weit. In der Kaffeebar „Ohne Worte“in der kolumbianischen Hauptstadt arbeiten nur taubstumme Kellner. Es ist ein Ort von und für Hörgeschädigte, aber nicht nur. Jedermann ist willkommen, ob er hören kann oder nicht.
Vor einem halben Jahr hat das Café ohne Worte eröffnet. „Und es ist jeden Tag voll“, sagt Christian Melo, einer der drei Eigentümer. Melo ist an diesem Tag der Einzige aus der Belegschaft, der nicht taubstumm ist. Aber der 32-Jährige beherrscht auch die Gebärdensprache, bespricht sich gestenreich mit seinen Kellnern, macht die Abrechnungen, hilft bei unüberbrückbaren Kommunikationsproblemen mit den Gästen. „Das hier ist ein Platz für Inklusion“, sagt Melo und fügt hinzu: „Hier dreht sich die Welt einmal anders herum.“In seinem Geschäft sollen die Hörenden sich den Nichthörenden anpassen. „Umgekehrtes Lernen“nennt er das. So sähe man, wie es den Schwerhörigen und Tauben draußen in der Welt der Hörenden jeden Tag ergehe.
Wenn der Gast die Lampe über seinem Tisch anknipst, bringt Kellner Juan Carlos die Karte. Im Selbstversuch wird schnell deutlich: Die große Herausforderung ist es, mit den Augen zu hören und den Händen zu sprechen. Wer die Gebärdensprache nicht beherrscht, stößt rasch an seine Grenzen. Aber hier hilft der Blick in die Karte. Neben Getränken sind dort die grundlegenden Gesten der Taubstummensprache verzeichnet. Also begrüßt man den Kellner, als er die Bestellung aufnehmen will, mit einem „Hallo“, indem man die flache Hand abgewinkelt an die Stirn führt. Fast so wie ein militärischer Gruß. Juan Carlos lächelt, Daumen hoch, alles klar. Aber einen Cappuccino bestellt man dann doch besser durch Zeigen auf der Karte. Im Café ohne Worte sitzen Paare oder größere Gruppen zusammen. Sie unterhalten sich angeregt, gestikulieren mit schnellen, eingeübten Handbewegungen. Sie fühlen sich sichtlich wohl. Als Kellner Juan Carlos den Kaffee bringt, ist dieser bereits gesüßt, wie es in Lateinamerika manchmal passieren kann.
„Weltweit“, sagt Inhaber Melo, gebe es nur fünf andere Cafés oder Kneipen für Hörgeschädigte. Lediglich in England, Frankreich, Kanada, Nicaragua und Argentinien existieren Freizeit- und Vergnügungsorte von und für Taubstumme.
Aber wie kommt ein Hörender auf die Idee, ein Café für Taubstumme zu eröffnen? Melo lacht: „Zufall, die Suche nach einer Geschäftsidee und das Gefühl, etwas Gutes tun zu wollen.“Er habe eines Tages zwei Taubstumme kennengelernt, begonnen, sich für das Thema zu interessieren, und sich dann mit seiner Frau und seinem Bruder beraten. Und so entstand die Idee für Sin Palabras. Mitte Juni eröffnete das Café im zentralen Stadtteil Chapinero von Bogotá, umgeben von HeavyMetal-Clubs, Schwulen-Bars und hippen Restaurants.
Wie groß das Bedürfnis nach einem Ort für Taubstumme war, merkt Melo jeden Tag. Sein Laden ist immer voll. Tagsüber und unter der Woche ist es ein Café. Am Wochenende organisiert er Discoabende, bei denen die Gehörlosen auf den Holzbohlen im hinteren Teil des Cafés tanzen können, weil sie dort die Vibration spüren. „Es ist das erste Mal, dass ich Musik empfinden kann“, erklärt die 25-jährige Diana in Gebärdensprache. Sie lacht, und ihre Augen sagen: Das hat uns hier gefehlt, hier fühle ich mich wohl. Allein in Bogotá leben 54.000 Menschen mit Hörschädigungen. Landesweit sind es laut Volkszählung von 2005 455.718 Gehörlose und Hörgeschädigte.
Auch deshalb hat sich das Café Sin Palabras schnell zu einem Treffpunkt und Kulturzentrum erweitert. Melo und seine Kompagnons organisieren Ausstellungen und Poesie-Abende, bei denen Taubstumme ihre Gedichte in Gebärdensprache vortragen. Regelmäßig treffen sich auch Hörende hier und nehmen Unterricht, weil sie Gebärdendolmetscher werden wollen. „Wir wollen zeigen, wie stolz, talentiert und durchsetzungsfähig hörgeschädigte Menschen sind“, sagt Christian Melo. „Wir sind schon zufrieden, wenn die Hörenden nach einem Besuch bei uns sensibilisiert nach Hause gehen und vielleicht die eine oder andere Geste in Gebärdensprache gelernt haben.“Und wie bestellt man nun in Gebärdensprache einen Kaffee ohne Zucker? „Mit dem Zeige- und Mittelfinger am Kinn.“
„Weltweit gibt es nur fünf Cafés für Menschen mit Hörschädigung.“