Salzburger Nachrichten

Ein Ehepaar lässt den Alltag hinter sich

- MAGDALENA MIEDL

Gerade noch hat John (Donald Sutherland) der Kellnerin im Autobahnre­staurant einen Vortrag über „Der alte Mann und das Meer“gehalten, mit dem Eros des routiniert­en Literaturp­rofessors gegenüber einer weitäugige­n Studentin, die über Hemingway dissertier­t. Johns Frau Ella (Helen Mirren) hat längst die Geduld verloren, zu oft hat sie sich sein pfauenhaft­es Gehabe ansehen müssen, seine Ignoranz allem Weltlichen gegenüber. Dann macht sich der Literaturp­rofessor in die Hose. Und Ella sorgt dafür, dass er wieder trocken wird.

„Das Leuchten der Erinnerung“ist der erste englischsp­rachige Film von dem italienisc­hen Regisseur Paolo Virzì und sein zweites Roadmovie nach „Die Überglückl­ichen“über zwei Frauen, die aus der Psychiatri­e ausgebroch­en sind. Diesmal ist es ein altes Ehepaar, das den Alltag hinter sich gelassen hat. Beiden geht es gesundheit­lich schlecht: Ella nimmt starke Medikament­e, die ihre Schmerzen dämpfen, ihr Krebs ist längst nicht mehr zu behandeln. Und Johns Vergesslic­hkeit ist in Wahrheit eine schwere Demenz. Ella hat beschlosse­n, einmal noch eine gemeinsame Reise mit ihm zu unternehme­n, mit dem „Leisure Seeker“, dem dinosaurie­rhaft klobigen Wohnmobil, mit dem John und Ella in den 1970er-Jahren mit den Kindern von Boston aus die USA erkundet haben.

Inzwischen sind die Kinder erwachsen. Sie schwanken zwischen Zorn und Besorgnis darüber, dass die gebrechlic­hen Eltern sich einfach so aus dem Staub gemacht haben. Doch wo John und Ella jetzt hinfahren, das hat nur mehr mit ihnen beiden zu tun: Ella hat beschlosse­n, dass John einmal in seinem Leben das Haus von Ernest Hemingway sehen soll, in Florida.

Dorthin geht die Reise, entlang vieler Campingplä­tze, wo sie sein Gedächtnis mit dem Reise-Diaprojekt­or und Fotos von früher aufrechtzu­erhalten versucht. Manchmal leuchtet eine Erinnerung auf, und es ist für einen Moment, als wäre John ganz der Alte, als stünde er auf einmal in einem Sonnenstra­hl und könnte klar sehen. In einem dieser Momente kommt ein alter Konflikt wieder an die Oberfläche, doch Momente später ist John wieder in seinem Wattenebel versunken. Und Ella muss erfahren, wie schlimm es ist, für eine frühere Kränkung nie mehr um Verzeihung gebeten zu werden, einfach, weil sich das Gegenüber nicht mehr erinnern kann.

„Das Leuchten der Erinnerung“ist, trotz der anrührend aufrichtig­en Darstellun­gen seiner beiden Stars, in erster Linie ein klischeeha­fter Taschentuc­hfilm. Doch es ist mehr dran an Paolo Virzìs Film, der mit der Begeisteru­ng des europäisch­en Regisseurs amerikanis­che Kinomythen und Ikonografi­en benutzt. Der Drehzeit im Sommer 2016 ist geschuldet, dass selbst dieser sentimenta­le Film nah an die Realität heranrückt, in der TrumpWahlv­eranstaltu­ngen das Straßenbil­d prägen als beängstige­nde Begleitmus­ik für die melancholi­schen Reisenden. „Die sind lustig“, sagt der verwirrte John und will mit den Trump-Schreiern mitmarschi­eren. Ella zieht ihn schnell weg und erklärt ihm, dass er immer die Demokraten gewählt habe. Ein wenig bricht da das Zuschauerh­erz, aus Gründen, die mit der Weltpoliti­k zu tun haben, mit der unerhörten Endlichkei­t des Lebens und mit einer Form von Liebe, die mit Worten gar nicht so einfach zu erklären ist.

Kino: „Das Leuchten der Erinnerung“. USA/Italien 2017. Regie: Paolo Virzì. Mit Helen Mirren, Donald Sutherland.

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BILD: SN/FILMLADEN Auf der letzten Reise.

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