Kaschmir bleibt ein Zankapfel
Am notorisch angespannten Verhältnis Pakistans zu Indien wird sich in absehbarer Zeit wenig ändern. Auch deswegen nicht, weil die Regierung in Islamabad zum Missfallen Delhis jetzt ganz auf die chinesische Karte setzt.
Das Spektakel findet jeden Tag statt, bevor die Sonne untergeht. Tausende Menschen strömen herbei, wenn hier die Flagge eingeholt und die indisch-pakistanische Grenze geschlossen wird. Wagah heißt die Grenzstation auf der pakistanischen Seite, Attari jene auf der indischen Seite. An einem Ort, der kaum eine Autostunde von der pakistanischen Großstadt Lahore entfernt liegt, spielt sich täglich eine doppelte Militärparade ab: Mit zackigem Schritt marschieren hüben wie drüben Grenzsoldaten in glänzender Uniform auf. Auf Tribünen verfolgen da wie dort Zuschauer das Schauspiel und spenden begeistert Beifall.
Auf der pakistanischen Seite prangen Porträts von Staatsgründer Muhammad Ali Jinnah, der auch die Geldscheine des Landes ziert. Zuerst schwenkt ein Einpeitscher eine grün-weiße Fahne. „Pa-kis-tan“ruft er in die Menge, um die Menschen anzufeuern. „Zin-da-bad“schallt es von den Rängen zurück: „Lang soll es leben.“Mit grimmigen Gesten wenden sich dann Pakistans Armeeangehörige gegen die Inder hinter dem Grenztor. Militärische Präsenz und Kampfbereitschaft sollen demonstriert werden. Eine halbe Stunde lang dauert die Inszenierung. Anschließend stellen sich Zuschauer mit Grenzsoldaten zu Fotos auf. In einem Shop lassen sich passende Souvenirs kaufen. Dann zerstreut sich das Zuschauervolk.
Das Grenzritual ist ein Spiegelbild der politischen Realität: Indien und Pakistan sind Erzfeinde; eine Entspannung zwischen beiden Staaten dürfte es in absehbarer Zeit nicht geben. Der Streit zwischen Indien und Pakistan entzündet sich bis heute am Kaschmir-Konflikt – einem Erbe von 1947, als der indische Subkontinent geteilt worden ist. Dass sich Indien damals einen großen Teil von Kaschmir einverleibt hat, steht im Gegensatz zu Pakistans Gründungsidee. Pakistan versteht sich als Nation der Muslime in der Region. Dass zu Indien ein Territorium gehören soll, das zu 90 Prozent von Muslimen bevölkert ist und direkt an Pakistan grenzt, stellt das nationale Fundament des pakistanischen Staates infrage.
Heute trennt die „Line of Control“den indischen vom pakistanischen Teil des einstigen Fürstentums Kaschmir. Sie bildet eine der am stärksten militarisierten Grenzen der Welt. „Azad Kaschmir“, also freies Kaschmir, nennt Pakistan einen Teil des umstrittenen Territoriums. Der Begriff soll anzeigen, dass Pakistan die indische Besetzung Pakistan in der Krise Kaschmirs unverändert für unrechtmäßig hält. Drei Kriege haben Indien und Pakistan bereits wegen Kaschmir geführt (1947/48, 1965, 1999). Die Region bleibe ein Unruheherd, analysiert SüdasienExperte Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin – „aber einer, der für beide Seiten handhabbar ist.“Indien und Pakistan neigten deshalb dazu, eine Lösung des Konflikts auf die lange Bank zu schieben.
Das pakistanische Lahore zeigt als ehemalige Residenzstadt der muslimischen Mogulherrscher mit seinem Fort, mit Moscheen und Mausoleen eine ähnlich prächtige Architektur wie Delhi oder Agra in Indien. Aber auf Abgrenzung von Indien ist Pakistan heute bedacht. Islamabad misst die Politik von Drittstaaten daran, ob eine Gleichbehandlung beider Länder vorliegt. Dass man selbst bei der Armutsbekämpfung nicht vorankommt, ist für die pakistanische Regierung kein Drama, solange der indische Nachbar dabei ebenfalls keinen Erfolg erzielt. Das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan wird sich auch deshalb nicht verbessern, weil Pakistan neuerdings die Kooperation mit China vorantreibt, in dem Indien einen regionalen Rivalen sieht.
„Pakistan setzt alles auf die chinesische Karte,“konstatiert Wagner. Der Chinesisch-Pakistanische Wirtschaftskorridor sei für die Regierung in Islamabad die große Vision, mit welcher sich Pakistan entwickeln solle. Mindestens 50 Milliarden Euro will Peking demnach in die Infrastruktur der Region investieren. Eine Wirtschaftsblüte verspricht sich davon Pakistans Politik. Doch Pakistans Devisenreserven schrumpfen. Das Land muss immer mehr Geld aufnehmen. Die Verschuldung steigt dramatisch. Am Ende müsse Pakistan möglicherweise den Hafen von Gwadar an die Chinesen abtreten, weil es die Schuldenlast nicht mehr tragen könne, sagt Wagner. Früher habe das Land zwischen China und den USA lavieren, den einen gegen den anderen ausspielen können. Diese außenpolitische Manövrierfähigkeit verliere Pakistan jedoch ein Stück weit, wenn es sich jetzt dermaßen eng mit China verbinde.
In Lahores bestem Hotel, wo sich die Angehörigen der Elite zum Business-Lunch treffen, wird plakatiert: „Lang lebe die chinesisch-pakistanische Freundschaft!“Dagegen ist in Pakistans Presse zu lesen, wie sehr sich die Beziehungen zwischen den USA und Pakistan zuletzt verschlechtert haben. Nach Donald Trumps Tweet zum Jahreswechsel berief die Regierung in Islamabad eine Krisensitzung ein. Empört äußerte sie sich über den Vorwurf des US-Präsidenten, dass Pakistan radikalislamischen Taliban aus Afghanistan Unterschlupf gewähre, während Amerika diese in Afghanistan jage. Washington hat mittlerweile die Militärhilfe für Pakistan „eingefroren“, weil Islamabad nicht hart genug gegen Extremisten vorgehe.
Bei allem Ärger über Islamabads doppeltes Spiel können es die USA freilich nicht auf einen Bruch mit Pakistan ankommen lassen. Zu groß ist für Amerika das strategische Dilemma – auch wegen Pakistans Atomwaffen. So bleibt die Frage, ob Pakistans Nuklearprogramm in sicheren Händen sei, eines der größeren Staatsgeheimnisse des Landes. Wagner erläutert, „dass die USA gerade wegen des Nuklearprogramms weiterhin an engen Beziehungen mit Pakistan interessiert sind“. Die USA hätten massiv in die nukleare Zusammenarbeit mit Pakistan investiert. Das betreffe auch die Ausbildung und die Kontrolle jener Leute, die im pakistanischen Nuklearprogramm arbeiteten.