Die Schwester des Führers
Paula Hitler lebte inkognito. Sie war mit dem Steinhof-Chef vom Spiegelgrund verlobt. Der ließ ihre Cousine vergasen. Ein Theaterstück erweckt beide Frauen zum Leben – vorläufig in einer Lesung.
„Ich habe nichts zu bereuen. Die Welt hat mich nie gekannt, und ändern konnte ich an den Ereignissen nichts“, resümierte sie ihr Leben: Paula Hitler (1896–1960), sieben Jahre jünger als ihr Bruder „Dolferl“und seine längste Beziehung, blieb tatsächlich wenig bekannt. In der Jugend hübsch, auf späten Fotos eine einsame Frau, die um die Rehabilitierung Hitlers kämpft – nach einem Leben unter falschem Namen: Wolf. Ihre letzten Jahre verbringt sie in Berchtesgaden, auf 16 Quadratmetern in einer schimmelfeuchten Wohnung, als Sozialhilfeempfängerin, mit Stock und hässlicher Kassenbrille, belesen, fromm, misstrauisch. Weshalb nur ein Mal einem britischen Fernsehsender ein Interview mit ihr gelingt – 1959, ein Jahr vor ihrem Tod. Dann verliert sich ihre Spur im Untergrund der Geschichte.
Jahrzehnte vergehen, ehe ein Briefwechsel zwischen Paula Wolf und dem Verleger Heinz Gerhard Schwieger erscheint (1992) und der Priester-Lehrer von Papst Benedikt XVI., Alfred Läpple, biografisch der Frage nachgeht, was es bedeutet, die Schwester Hitlers gewesen zu sein (2003). Vor einigen Jahren tauchte sie in Dokumentationen über Hitlers Verwandte auf. Und nun verschafft ihr Isa Hochgerner mit ihrem Theaterstück „Paulas Kampf“ein Revival. „Während einer Fotoaktion am Steinhof habe ich erfahren, dass der Arzt Erwin Jekelius ,schmusend mit Paula Hitler‘ in seinem Büro überrascht worden war. Ich bin der Geschichte nachgegangen“, erzählt die Autorin.
Tatsächlich war Jekelius Paulas Verlobter und als ärztlicher Direktor der „Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund“auch Chef von Heinrich Gross: „1941, nach dem Eintreffen von Dr. Gross, begannen wir in unserer Klinik mit der Vernichtung der Kinder […] mein Gehilfe Dr. Gross hatte einen praktischen Lehrgang zur Tötung von Kindern absolviert. Monatlich töteten wir zwischen sechs und zehn Kinder“, hatte er nach Kriegsende russischen Alliierten in einem Verhör gestanden. Außerdem firmierte er als Gutachter des Euthanasieprogramms T4, demzufolge alte Menschen und geistig oder psychisch Behinderte in den Gastod geschickt wurden, darunter auch Hitlers Verwandte Aloisia Veit. „Vermutlich lernte Paula den Arzt kennen, weil Aloisias Familie sie gebeten hatte, sich um die psychisch Kranke zu kümmern oder gar, sie zu retten. Ich wollte die tragische Verknüpfung zwischen Paula, ihrem Verlobten und ihrer Cousine herausarbeiten“, sagt Isa Hochgerner. „Traumsequenzen, in denen die beiden Frauen einander begegnen, sind mein dramaturgischer Rahmen.“
Auch der Rahmen, in dem Paula Hitler aufwuchs, entsprach einem Trauerspiel: Von den sechs Kindern des Ehepaars Klara und Alois Hitler hatten nur Adolf und sie überlebt. Viele Umzüge von Hafeld bis Linz bestimmten ihre verunsicherte Kindheit, Einsamkeit, ein fehlender, weil früh verstorbener Vater und ein Dasein in Adolfs Schatten. „Mutter verwöhnte ihn auf meine Kosten. Ich war seine Dienerin …“, so schwankte Paula in ihren Aufzeichnungen zwischen Anbetung und Aggression, weil Adolf für „die Kleine“wenig übrig hatte. Als die Mutter starb, musste sie elfjährig zu ihrer Halbschwester Angela ziehen, denn der Bruder versuchte sein Glück als Maler in Wien. Erst nach 14 Jahren trifft sie den später „meistgehassten Mann der Welt“dort wieder. Sie arbeitet seit 1920 als Sekretärin in der Bundesländerversicherung in der Praterstraße. 1930 wird ihr gekündigt, weil „bekannt geworden ist, wer mein Bruder war“(Paula H.). Als Ersatz wird ihr Hitler künftig 250 Schilling und später 500 Reichsmark monatlich zukommen lassen, ohne sie zu treffen. Und als sie ihn 1936 bei der Olympiade in Berlin besucht, weist er sie an, inkognito zu bleiben und einen neuen Pass mit Namen Wolf (Hitlers Spitznamen) und geändertem Geburtsdatum anzunehmen.
Vielleicht wollte er als Führer ohne Geschichte sein. Vielleicht genierte er sich für seine Herkunft und hielt sich von den Verwandten fern, weil zu ihnen geistig oder psychisch Behinderte gehörten – wie auch seine steirische Großcousine Aloisa, ein fleißiges Stubenmädchen im Wiener Hotel Höller, das mit 41 phasenweise an starken Stimmungsschwankungen zu leiden begann, Gesichter im Dunkeln sah, Stimmen hörte, sich verfolgt fühlte und schließlich am Steinhof landete. In neun Jahren zwischen Beruhigungsmitteln und Gitterbett erhält Aloisia nur ein Mal Besuch – ob von Paula, blieb ungeklärt. Aber klar ist, dass ihre Krankenakte am 28. November 1940 mit der Überweisung in die EuthanasieZwischenanstalt Ybbs und am 6. Dezember in eine „unbekannte Anstalt“endet. Es handelte sich um die Tötungsanstalt Hartheim, wo über 30.000 gebrechliche Menschen und KZ-Häftlinge in Bussen durch einen Seiteneingang des Schlosses über einen Holzschuppen in den Auskleide- und einen Untersuchungsraum vor der Gaskammer geschleust wurden. Jekelius selbst, der den „Euthanasie-Erlass“miterarbeitet hatte, verantwortete nicht nur die Ermordung von 789 Steinhof-Kindern, sondern auch die Vernichtung von 4000 Patienten, die er zum „Euthanasiefall“stempelte.
Ob Paula Hitler von der Ermordung Aloisias gewusst hat, bleibt offen. Sie trifft Jekelius jedenfalls und lebt abwechselnd in einer Wiener Mietwohnung ohne Namensschild oder in Weiten bei Melk, in dem Haus, das sie unbedingt haben wollte, aber auf ihren Verwandten Eduard Schmidt eintragen lässt. Sie habe die Besitzerin, die nicht verkaufen wollte, unter Androhung politischer Konsequenzen erpresst, erzählte die ehemalige Nachbarin Paulas in einem Videointerview. Mit dem Hauskauf war Hitler, der aus der Ferne bestimmte, was die Schwester tat und mit wem sie verkehrte, einverstanden, mit ihrer Verlobung nicht: Auf Führers Befehl wurde Jekelius postwendend verhaftet, vorübergehend an die Ostfront versetzt und aus Paulas Gedächtnis gestrichen. In seinen letzten Tagen reagierte er brüderlich, überwies ihr 100.000 Reichsmark und ließ sie von zwei SS-Männern am Obersalzberg in Sicherheit bringen. Aber Paula Wolf wird aufgespürt, verhaftet, von US-Alliierten verhört und wieder entlassen, weil sie weder NSDAP-Mitglied noch nachweislich in Naziverbrechen verstrickt war. Trotzdem versteckt sie sich fünf Jahre in einem Almgasthof in Berchtesgaden vor Menschen und Medien, tippt ihre Erinnerungen in ihre Erika-Schreibmaschine und verkehrt meist schriftlich mit wenigen, aber politisch einschlägigen Leuten: Vor allem der ehemalige Vize-Reichspressechef Helmut Sündermann und der Verleger Heinz Gerhard Schwieger, der ihre Memoiren veröffentlichen will, versorgen sie mit Literatur und Informationen aus der Welt, und schließlich erhält sie von vormals hochrangigen Nazis Briefe und Lebensmittel aus Argentinien.
In Hochgerners Theaterstück befreit sich die Schwester zum Schluss von der großen Bruder-Lüge, im wirklichen Leben nennt sie sich wieder Hitler, verteidigt ihren Adolf als Idealisten, der Deutschland retten wollte, und findet andere, die für seine Verbrechen verantwortlich sind: seine Getreuen, Gott und die Mutter. „Die Erziehung war schuld daran, dass er es nie ertragen konnte, dass jemand etwas besser wusste als er. Immer musste er das sein, was seine Mutter in ihm gesehen hatte: der Stärkste, der Größte von allen … Ist es wohl richtig zu sagen, dass ein paar kräftige Ohrfeigen, ausgeteilt im Jahr 1900, den Ausbruch des 2. Weltkrieges verhindert hätten?“ Isa Hochgerner: „Paulas Kampf“– Lesung aus dem Theaterstück am 21. Jänner 2018, 17.00, im Café Korb, Brandstätte 1, 1010 Wien.