Auf Österreich folgte die Tschechoslowakei
Adolf Hitler peilte nach dem Anschluss Österreichs das zweite Land an. Doch ein Brite hielt ihn zurück.
Österreichs Anschluss ans Deutsche Reich im März 1938 hatte naheliegende Folgen, die die Briten in Nervosität und Panik versetzten. „Die Eingliederung Österreichs ins Reich hat die tschechischdeutsche Grenze im Süden um über dreihundert Kilometer verlängert“, erklärte ein Militärattaché in Downing Street 10 seinem Premierminister Chamberlain. Ein anderer ergänzte: Er habe mit Generalfeldmarschall Göring gesprochen, der versichere, die deutsche Wehrmacht brauche bloß Tage, um die Tschechen zu überrennen, und „Prag bombardieren wir in Schutt und Asche“.
Was tun? Sollen die Briten den Tschechen beispringen und somit Deutschland den Krieg erklären, sofern dies auch die Franzosen täten? Kann der Premier dies im Wissen riskieren, dass seine eigene Abwehr einem deutschen Angriff nicht standhielte und dass in London aus Kriegsangst bereits Gasmasken kursierten? Kann eine Regierung so irre Gefahr wegen eines weit entfernten Landes verantworten? Soll man zugestehen, dass nur das großteils deutschsprachige Sudetenland zu Deutschland käme? Oder muss man Hitler stoppen?
Von diesen bangen Stunden in Downing Street 10 und den ihnen folgenden Verhandlungen mit Adolf Hitler um das Münchner Abkommen erzählt der britische Autor Robert Harris in seinem jüngsten Buch. Nach seiner Cicero-Trilogie hat er sich also in die Zeitgeschichte und somit in gefährliches Terrain für Romane begeben. Denn die NS-Zeit ist so brisant für die Gegenwart, dass jedes Verzerren oder Verwässern zum Ärgernis würde. Andrerseits wäre eine einfühlsam konstruierte Verbindung zwischen Protokollen, Akten und Verträgen hilfreich im Verstehen von Krieg, Diplomatie und Politik.
Sofern man davon ausgehen kann, dass Robert Harris nicht nur Straßenlampen und Zigarettenwerbung zeitgenau beschreibt, sondern auch korrekte Zitate einbaut, ist ihm das Zweite gelungen. Freilich, Liebesgeschichten sind woanders prickelnder erzählt. Doch seine erfundenen Hauptfiguren, Hugh Legat in London und Paul von Hartmann in Berlin, formt er zu differenzierten, glaubwürdigen Charakteren: zwei Heißsporne – der eine mehr für die eigene Karriere, der andere im Widerstand gegen Hitler. Beide sind subalterne Staatsdiener, doch nach ihren Studien in Oxford versiert genug, um in die Nähe ihrer Staatschefs zu gelangen.
Rund um deren Erlebnisse holt Robert Harris tatsächliche Personen in den Roman – Chamberlain, Churchill, Hitler, Göring und Goebbels, „an der Rückenlehne eines Stuhls lehnend, mit verschränkten Armen, grübelnd, allein“. Über den erfundenen Paul von Hartmann führt er zu tatsächlichen Aktiven im Widerstand – wie Hans Bernd Gisevius, Hans von Dohnany, Ludwig Beck oder Hans Oster.
Robert Harris erfasst immer wieder, in welch ausweglose Angst ein Terrorregime jeden Einzelnen versetzt. Vor allem wird dieser Roman zur Reverenz für Neville Chamberlain, der oft als Schwächling verhöhnt worden ist und dessen Appeasement-Politik nur der martialische Winston Churchill hatte ausbügeln können. Doch Robert Harris schildert Chamberlain als Politiker mit Bildung, Anstand und Weitblick und als mutigen Verhandler, der Adolf Hitler im September 1938 in München sogar Konzessionen abringt und so den Kriegsbeginn verhindert. Aus Sicht der Friedfertigen ist Chamberlain grandios. Doch aus dem Milieu des Tyrannen gilt der Satz, den im Roman Paul von Hartmann sagt: „Der größte Idiot war Chamberlain.“