1923 Alle 15 Monate ein neuer Kanzler
Bankenkrisen, Beamtenabbau, Ausschreitungen wegen eines Zionistenkongresses: Der politische Ausnahmezustand war in der Ersten Republik nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der Kanzlersessel war ein Schleuderstuhl.
Wie unruhig die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich war, lässt sich allein an der Zahl der Regierungschefs ablesen: In den 20 Jahren von 1918 bis 1938 gab es 15 Kanzler (wobei zwei Regierungschefs mehrmals amtierten). Zum Vergleich: In der Zweiten Republik halten wir nach 72 Jahren jetzt gerade beim 14. Bundeskanzler.
Im Schnitt dauerte eine Kanzlerschaft in der Ersten Republik nur 15 Monate. Am kürzesten amtierte der Beamte Walter Breisky, nämlich nur für einen Tag. Auch die Namen anderer damaliger Kanzler sind heute kaum noch bekannt: Michael Mayr, Ernst Streeruwitz, Carl Vaugoin, Otto Ender oder Karl Buresch. Johannes Schober, eigentlich Wiener Polizeipräsident, wurde gleich drei Mal Kanzler. Am längsten als Regierungschef amtierte aber Ignaz Seipel, die dominierende politische Figur der Ersten Republik.
Der Prälat und Theologe hatte schon der letzten kaiserlichen Regierung als Sozialminister angehört, 1922 wurde er erstmals Kanzler. Obwohl er der starke Mann der regierenden Christlichsozialen war, konnte er sich nicht einmal zwei Jahre an der Spitze der Regierung halten. Wegen eines Lohnkonflikts bei den ÖBB und eines Kompetenzstreits zwischen Bund und Ländern gab er das Amt des Bundeskanzlers 1924 an seinen Vertrauten Rudolf Ramek weiter.
Über diesen weitgehend unbekannten Regierungschef aus Salzburg ist kürzlich eine umfassende Biografie aus der Feder von Franz Schausberger erschienen. Das Buch schildert detailliert, mit welchen Widrigkeiten ein Bundeskanzler in der Ersten Republik zu kämpfen hatte.
Zum Beispiel war Ramek persönlich in die Preiskalkulationen der großen Brotfabriken eingebunden. Um in der Inflationszeit einen niedrigeren Brotpreis zu erzwingen, wurde der Ankerbrot-Generaldirektor sogar verhaftet und 1925 zu schwerem Kerker, verschärft durch „hartes Lager“, verurteilt. Später kam man auf die Idee, Brotpreiserhöhungen zu vermeiden, indem man stattdessen das Backen kleinerer Brotlaibe erlaubte.
Enorme politische Sprengkraft hatten die ständigen Bankenskandale. Der Bankenplatz Wien war nach dem Ende der Monarchie viel zu groß, binnen weniger Jahre mussten mehr als 100 Banken zusperren. Die Regierung musste wiederholt die Sicherheit von Spareinlagen garantieren, um einen „Run“auf wackelnde Banken zu verhindern. Die finanziellen Folgen waren unabsehbar.
Einen ernsten Konflikt hatte Ramek mit den Beamten auszutragen. Als Gegenleistung für die Finanzhilfe des Völkerbundes hatte sich Österreich verpflichtet, 100.000 Beamte abzubauen und auch sonst bei den Beamtengehältern zu sparen. Die Verhandlungen darüber gestalteten sich unendlich schwierig, denn Österreich hatte damals nicht eine Beamtengewerkschaft, sondern 25 verschiedene Beamtenvertretungen.
Mit dem Versuch, den starren Mieterschutz aufzuweichen, handelte sich die Regierung den erbitterten Widerstand der sozialdemokratischen Opposition ein. Um den Beschluss der Reform hinauszuzögern, hielten deren Abgeordnete endlose Filibusterreden. Eine dauerte sieben Tage lang.
Ebenso tobte zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen ein heftiger „Schulkampf“. Die Streitfrage war, ob der Religionslehrer die Schulkinder fragen darf, ob sie am Sonntag in der Kirche gewesen sind oder nicht. Die Frontstellung zwischen dem „roten Wien“und dem nach heutigen Maßstäben schwarz-blau regierten Bund bestand auch in vielen anderen Fragen.
Nichts charakterisiert die vergiftete politische Atmosphäre dieser Jahre besser als die Auseinandersetzung um den Zionistenkongress, der im August 1925 im Wiener Konzerthaus stattfinden sollte. Die nationalsozialistische Presse wetterte, dass „30.000 Saujuden“ins Land gelassen würden. Ein Wiener Christlichsozialer warnte davor, dass die Juden ansteckende Krankheiten einschleppen würden. Und die Sozialdemokraten unterstellten Bundeskanzler Ramek, der den Kongress verteidigte, er tue das auf Geheiß des „internationalen Finanzkapitals“.
In den Landeshauptstädten, darunter auch in Salzburg, kam es zu Protestversammlungen gegen den Kongress, in Wien sogar zu pogromartigen Ausschreitungen. Die Nationalsozialisten versuchten noch Öl ins Feuer zu gießen, indem sie einen NSDAP-Parteitag in Wien ansetzten, zu dem sich auch Adolf Hitler ansagte. Doch Ramek verweigerte ihm die Einreisegenehmigung. Schließlich konnte der Zionistenkongress in Wien stattfinden. Kongressleiter war Chaim Weizmann, der spätere erste Staatspräsident Israels.
1926 war Ramek angesichts der vielfachen Konflikte mit seinen Nerven am Ende und trat zurück. Ignaz Seipel, der schon darauf gewartet hatte, wurde daraufhin angeboten, das Kanzleramt neuerlich zu übernehmen. Was Seipel mit der berühmten Feststellung quitierte: „Es geht der Republik nicht so schlecht, dass ich annehmen muss, aber auch nicht so gut, dass ich ablehnen darf.“