Der neue Gott wohnt im Internet
Medienkünstler Peter Weibel fragt, was das Netz mit unserer Demokratie macht, mit unserem Leben, mit uns selbst. Fest steht: Die echten Dummen haben bald keine Chance mehr gegen künstliche Intelligenzen.
Peter Weibel wagt Seltsames: Der Medienkünstler, Medienphilosoph und Direktor des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) hat sein Museum in eine Mischung aus Labor und Club Méditerranée verwandelt. Der Eintritt ist frei. Zwischen Palmen und in Sitzmöbeln können die Besucher gratis essen und trinken und sich mit digitalen Kunstwerken beschäftigen.
SN: Herr Weibel, die neue Ausstellung im ZKM in Karlsruhe „Open Codes – Leben in digitalen Welten“führt uns in das Universum der digitalen Codes. Die öffentliche Hand war nicht bereit, dieses Projekt zu subventionieren, also bezahlen Sie die Lebensmittel aus eigener Tasche. Was erwarten Sie sich davon?
Peter Weibel: Codes sind der Schlüssel, der die Türe zwischen der analogen und der virtuellen Welt öffnet. Dieses Ausstellungsformat, mit dem Programmieren und die neuen Technologien für alle zugänglich gestaltet sind, wird sehr angenommen, weil es jedem ermöglicht, das „Dahinter“unserer heutigen digitalen Welt zu verstehen und sich zu bilden. Ich plädiere dafür, dass Wissen und Wissenserwerb bezahlt werden, und das führe ich in meinem Museum vor: Die Besucher können sich über anspruchsvolle Kunstwerke digitales Wissen aneignen und werden dafür belohnt. Wir stecken in einer Bildungskrise, die niemand sieht, der niemand entgegenwirkt. Die Bildungsklasse ist das Prekariat von heute. Die Gesellschaft hat die Maßstäbe verschoben. Sie investiert in die unterhaltenden, spielenden Berufe, vom Schauspieler bis zum Fußballer.
SN: Wie könnte und sollte der Staat der Bildungskrise entgegenwirken?
Wir befinden uns inmitten einer globalen Zeitenwende – im Umbruch von der Arbeitswertgesellschaft zur Wissensgesellschaft. Die bisherige Gesellschaft ist auf der Arbeitswerttheorie aufgebaut. Man arbeitet manuell und bekommt dafür seinen Lohn. Doch in Zukunft wird es kaum mehr körperliche Arbeit geben, sie wird von Robotern übernommen, und was die Menschen brauchen werden, ist entsprechende Bildung. So wie bisher die Arbeit in der Arbeitsgesellschaft bezahlt wurde, sollten in Hinkunft auch Wissen, Erwerb und Vermittlung von Wissen aufgewertet und entlohnt werden. Ein simples Beispiel zum Status quo: Wenn ein Vierzehnjähriger eine Bäckerlehre macht, erhält er dafür Geld. Wer Medizin studiert oder sich zum Lehrer ausbildet, muss dafür bezahlen.
SN: Die Digitalisierung durchdringt und verändert alle Lebensbereiche. Rüttelt sie auch an den Grundfesten der Demokratie?
Die Demokratie ist in der Krise. Wir erleben eine demokratische Rezession. Allerdings haben schon vor hundert Jahren Philosophen wie Walter Lippmann mit „Public Opinion“und James Dewey in „The Public and Its Problems“auf das Paradoxon der Demokratie hingewiesen: Demokratie brauche den kompetenten Bürger, der wisse, was er wähle. Aber: Solange es keine Demokratie gebe, könne der Bürger keine Kompetenz entwickeln. Heute haben wir in Europa das Problem, dass die Menschen sich von Globalisierung und Digitalisierung bedroht fühlen, weil es ihnen an zeitgemäßem Wissen fehlt. In ihrer Verunsicherung ziehen sie Antworten der Vergangenheit vor. Und so landet jeder Euro, der nicht in Bildung investiert wird, auf dem ideologischen Konto von FPÖ bzw. AfD. Politisches Handeln wird durch beschönigendes „Wording“ersetzt. Ein mündiger – weil gebildeter – Bürger ließe sich nichts vormachen.
SN: Das Internet als Instrument der Demokratie, die „vernetzte Macht von vielen“, verlangt von der Politik immer rasches Handeln – das aber widerspricht der demokratischen Entscheidungsfindung, die eben oft langwierig ist. Wo sind die Vorteile, wo die Gefahren?
Die Digitalisierung schafft schnelle Information und einen individualisierten Zugang zur Umwelt, aber gerade dieser wird eine große Gefahr für die Demokratie. Man muss zwar nicht mehr, wie bisher, in der analogen Welt ins Kino oder in eine Bar gehen, um jemanden kennenzulernen. Man kann die Zielperson bequem und maßgeschneidert im Computer finden. Man muss auch nicht ans andere Ende der Welt fahren, um seine sexuellen Perversionen auszuleben. Man sucht im Netz gefahrlos nach Gleichgesinnten. Mit dem Internet ist die Diversität um das Hunderttausendfache gestiegen. Aber Achtung: Wenn wir mit Unbekannten chatten, ist nicht sicher, ob sie real sind oder ein Bot. Die Russen haben eine Million Bots, über die sie politische Nachrichten verbreiten und Meinungen beeinflussen. Damit wird auch die Meinungsmajorität als Fundament der Demokratie fiktiv. Ich führe das in der Ausstellung vor, indem ich einen schwedischen Bot ein Gespräch mit einem deutschen führen lasse: Der Dialog ist so überzeugend, dass die Besucher glauben, da chatten zwei Menschen miteinander.
SN: Ganz nebenbei geben wir auch unsere Daten preis.
Ja. Die Individualisierung mit den Spuren, die wir im Netz hinterlassen, macht es möglich, Befindlichkeiten und Verhalten vorauszusagen. Jede Handlung gibt Aufschluss über uns. Vom Tanken über den Bücherkauf bis zum Einkauf in der Apotheke sind wir unter Kontrolle. Mit den gesammelten Daten lässt sich ein genaueres Bild von der Psyche eines Menschen erstellen, als die Psychologie es vermag. Algorithmen sind die Zaubermittel der Psychometrie, die eine Persönlichkeit, ihre Vorlieben und ihr Handeln errechnen. Wer Zugriff auf die Datensammlungen hat, kann jeden namentlich und ganz persönlich kontaktieren. Diese Technik des Mikrotargeting hatte schon Barack Obama zum Wahlsieg verholfen. Daten werden ununterbrochen gestohlen.
SN: Wie kann man sich vor Datenklau schützen?
Die Zehn Gebote der Bibel sind aus der analogen Welt, dort steht: Du sollst nicht begehren deines Nachbarn Gut – Weib, Haus und Hof. Heute müsste es heißen: deines Nachbarn Daten. Über seine Daten sollte der Besitzer per Gesetz selbst bestimmen und entscheiden, ob er sie freigibt und zum Beispiel dafür bezahlt wird, oder nicht. Und wenn er sie freigibt, könnte er für eine Ware zehn Prozent Abschlag bekommen. Facebook & Co. haben Milliardengewinne – durch den User, also müsste dieser auch am Gewinn beteiligt werden. Er ist ja Teil der Datenfirma.
SN: Im Industriezeitalter waren Maschinen Helfer der Menschen, um deren Arbeit zu erleichtern. Heute übernehmen mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Computer kognitive Aufgaben und treffen Entscheidungen für uns. In Science-Fiction-Filmen zeigt sich das als Kampf gegen bedrohliche, übersinnliche Mächte. Sind wir Zauberlehrlinge, die den Besen nicht mehr kontrollieren können?
Ursprünglich löste der Mensch die Angst vor dem Bedrohlich-Unbegreiflichen durch Gebete und Opfer für viele Götter, später nur noch für einen Gott, einen allmächtigen, allwissenden Experten, der unsere Unzulänglichkeiten ausgleicht. Wir hatten die Verantwortung an ein höheres Wesen abgegeben. Jetzt übergeben wir sie an niedere Wesen, die wir selbst geschaffen haben: Expertensysteme künstlicher Intelligenz. Zum Beispiel fahren wir mit dem Auto durch die Stadt und meinen, den besten Weg zu wissen, doch das Navi sagt „rechts abbiegen“– und wir „glauben“ihm. Eine Maschine, die genau weiß, wie es geht, die richtig rechnet, ist eine Kränkung. Zugleich ist das Vertrauen in die Technik als Lösung für Probleme, die uns Menschen überfordern, ein Transhumanismus, der früher Religion hieß. Früher sollte uns Gott retten, heute die künstliche Intelligenz.