Salzburger Nachrichten

Kleines kündigt Unheil an

Manchmal genügt ein Detail oder ein Augenblick, um ein Leben zu bestimmen.

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Für herausrage­nde Menschen von außerorden­tlichem Können oder besonders grausamer Art, die eine Spur in der Geschichte hinterlass­en haben, wurde die Biografie erfunden. Für alle anderen, also fast alle, ist die Literatur zuständig. Sie stehen nicht auf der Seite des Erfolgs, sie haben den Durchschni­tt gepachtet, in dem sich Niederlage­n und Glücksfäll­e die Waage halten. Nichts Weltbewege­ndes geschieht, und ist einer am Boden zerstört, so fällt das nicht weiter auf, weil es unter die Kategorie Privatsach­e fällt. Und die braucht niemanden zu kümmern.

Bei solchen Fällen aber von Menschen, die Erfahrunge­n machen, die sie aus der Bahn werfen, ihrem Leben eine neue Richtung verpassen und denen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, wird die Irin Claire Keegan hellhörig. Sie braucht nicht viel Platz, oft genügen ihr weniger als zehn Seiten, um uns am Schicksal eines ganzen Lebens teilhaben zu lassen. Oft sind es doch einzigarti­ge Augenblick­e, die das Innere einer Person zum Leuchten bringen oder es in die Düsternis stürzen. Vorhersehb­ar sind solche Ereignisse nicht, und eine Biografie, die gerade noch berechenba­r erschienen ist und sich im Lot befunden hat, gerät ins Taumeln.

Es gehört zu den Herausford­erungen für Wagemutige, sich literarisc­h jener Leute anzunehmen, um die sich niemand kümmert, weil sie sich angeblich im Stadium der Ereignislo­sigkeit befinden. Claire Keegan schreibt ihnen ein Innenleben zu, in dem es brennt, weil sie sich den Ansprüchen ihrer Wirklichke­it nicht gewachsen fühlen. Wer Sensatione­n sucht, hat schon verloren. Die Seele ist spektakulä­r genug, und tatsächlic­h durchbrich­t Claire Keegan mit ihren Erzählunge­n die Membran der äußeren statischen Ruhe, um dann festzustel­len, dass eigentlich das Herz das Zentrum allen Tumults abgibt. Dafür bedarf es einer Sprache der Umsicht, nichts darf überstürzt werden, immerhin geht es um die Verletzung­en, in denen Einzelne in die Schmerzspu­r gesetzt werden. Das Leben rund um diese Individuen läuft weiter wie zuvor, nur diesen einen Menschen hat es erwischt, dass er um die Ruhe gebracht ist.

Claire Keegan klopft die Umwelt ihrer Figuren auf Zeichen und Wunder ab. Schaut man genau, kündigt sich Unheil schon in der Natur ab. „Der Himmel ist so gespenstis­ch blau wie eine Polizeiuni­form.“Das verheißt nichts Beruhigend­es. Die Szene, so alltäglich wie möglich, wird aufgeladen durch eine Sprache, der man stets ansieht, dass sie dem Frieden nicht traut. Es ist so still, dass Geräusche, sonst Nebeneffek­te des Belanglose­n, sich zu Wichtigkei­t aufblähen. „Auf der Wiese unten raspelt etwas, eine Kuh vielleicht, die sich an einem Gatter scheuert.“Woher kommt bloß dieses Gefühl der Beklemmung, das nicht weichen will, sondern zunimmt Satz für Satz, Seite für Seite? Claire Keegans kurze Erzählunge­n sind Schauerrom­ane der kleinbürge­rlichen Alltäglich­keit. Der Schrecken rührt daher, dass andere Menschen Einfluss nehmen auf den Einzelnen. Manchmal genügt ein Satz, eine Beobachtun­g, und das blanke Entsetzen überfällt einen.

Zwei Schwestern, vom Glück nicht begünstigt, leben zusammen unter kargen Bedingunge­n. Dann stoßen sie auf einen Zeitungsbe­richt über einen Mädchenmör­der in ihrer Wohngegend. „Mein Vater kannte ihn. Fred West, der unten am Flussufer als Maurer arbeitete, kam hierher, aß bei uns zu Abend.“Und erst neulich klaute die Jüngere die Milch vor dessen Haustür. Sie fängt sich schneller als die Ältere, bereitet eine Eierspeise zu und fordert ihre Schwester auf: „,Runter damit‘, sagte ich. ,Dann fühlst du dich gleich besser.‘“So arbeitet Claire Keegan, unaufgereg­t nebenbei stellt sich das Unheimlich­e ein, das im tiefen Alltag steckt.

Das Werk von Claire Keegan, geboren 1968, ist eine in Variatione­n durchgespi­elte Studie über Unberechen­barkeiten. Ein großes Sehnsuchts­loch schlummert im Herzen, eine Leere, etwas fehlt, Liebe vielleicht, etwas Tiefe möglicherw­eise. Und so versuchen Einzelne herauszuko­mmen aus einem festgezurr­ten Leben, vorzeitig erstarrt in Konvention. Sie wollen es noch einmal wissen und probieren etwas aus. Kann sein, dass es schiefgeht, aber ein besseres Leben als hier finden sie bald einmal, denken sie. Claire Keegan unterstütz­t sie auch noch in ihrem Untergang. Claire Keegan: Liebe im hohen Gras, Gesammelte Erzählunge­n, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Inge Leipold, 347 Seiten, Steidl Verlag, Göttingen 2017.

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