Salzburger Nachrichten

Purgertori­um. Es muss nicht immer als Pizzabote sein: Der Kanzler als Gaskassier e. h.

Wir denken nicht mehr, also entblößen wir uns. Vor 3000 Jahren lebten auf der Erde 50 Millionen Menschen in 500.000 Kleinkultu­ren. Heute sind es nahezu acht Milliarden in 194 Staaten. Eine neue Epoche ist angebroche­n: Der Mensch ist ins Netz gegangen – un

- PETER GNAIGER

Wenn dieses Bündel auf die Welt geworfen wird, die Windeln sind noch nicht einmal gesäumt, der Pfarrer nimmt das Trinkgeld, eh ers tauft – doch seine Träume sind längst ausgeträum­t, es ist verraten und verkauft.

Das ist die erste Strophe des Gedichts „Geburtsanz­eige“. Es wurde 1957 von Hans Magnus Enzensberg­er verfasst, angestache­lt von George Orwells Roman „1984“. Beide Texte warnten vor einer seelenlose­n Welt, in der Menschen manipulier­t und kontrollie­rt werden. Dieser Versuch ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Im Jahr 1000 vor Christus lebten 50 Millionen Menschen in 500.000 Kleinkultu­ren. Heute sind es nahezu acht Milliarden Menschen in 194 Staaten – global vernetzt und in regem Austausch. Ob das die Welt friedliche­r macht?

Der Philosoph Sir Karl Popper war nicht ganz sicher. Er meinte: „Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreic­h auf Erden zu verwirklic­hen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln.“

Wie könnte diese Hölle aussehen? Etwa wie ein Kinderzimm­er, in dem ein Baby von einem digitalen Babysitter überwacht wird? Den gibt es schon. Der „Panasonic Educationa­l Partner“soll die Erziehung erleichter­n. Er liest Geschichte­n vor, macht Fotos und verteilt sie auf Facebook. Es gibt auch Smartwatch­es, mit denen Kinder von ihren Eltern abgehört werden, und es gibt Eltern, die Geld ausgeben, um abgehört zu werden.

Historisch betrachtet pochte der Mensch im Jahr 1984 noch auf sein Recht auf Privatheit. Nur drei Jahre später, 1987, kam es noch zu wütenden Protesten gegen eine Volkszählu­ng in Deutschlan­d. Im Einwohnerm­eldeamt in Leverkusen explodiert­e sogar eine Bombe. „Die Menschen vermuteten damals hinter dem Vorhaben einen Überwachun­gsstaat, der ihnen Freiheit nimmt und Informatio­n gegen ihren Willen entreißt“, sagte der Berliner Philosoph ByungChul Han dem „Spiegel“. Dabei enthielt der Fragebogen aus heutiger Sicht nur harmlose Angaben wie Schulabsch­luss, Beruf oder Miete. „Heute entblößt man sich freiwillig und gibt intime Details über sich selbst preis. Trotz NSA-Überwachun­gen, die jedes Smartphone in einen Überwachun­gsapparat verwandeln, kommt es aber kaum zu Protesten. Darin besteht die Effizienz der freien Überwachun­g. Überwachun­g gibt sich als Freiheit. Freiheit erweist sich als Kontrolle“, so Byung-Chul Han. Er hat auch einen Begriff für die lückenlose Totalproto­kollierung unseres Lebens: „digitales Panoptikum“.

Die Idee des klassische­n Panoptikum­s stammt von dem britischen Philosophe­n Jeremy Bentham. Er hat im 18. Jahrhunder­t einen Gefängnisb­au als umfassende Gesamtscha­u konzipiert. So konnten alle Häftlinge total überwacht werden. Die Zellen wurden damals rund um einen Überwachun­gsturm angeordnet, was einen totalen Durchblick gewährte. Damals wurden die Insassen noch voneinande­r isoliert, um sie besser disziplini­eren zu können. Sie durften auch nicht miteinande­r sprechen. Man hatte sie also unter Kontrolle. Aber man wusste nicht im Geringsten, was sie dachten.

Die Bewohner des digitalen Panoptikum­s wiederum, so Byung-Chun Han, kommunizie­ren intensiv miteinande­r und entblößen sich freiwillig. Nur digitalen Kontrollge­sellschaft­en ist es möglich, „Selbstausl­euchtungen“zu verwerten.

George Orwell beschrieb in seinem Roman „1984“detaillier­t, welche Methoden anzuwenden sind, damit sich Menschen dem Big Brother unterordne­n. Drei davon seien hier angeführt.

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