Ein Film soll aus dem Trauma helfen
Mit der Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“will Bassa Selim seine Verletzungen heilen. Aber nicht nur er scheitert daran.
Bilder gestern, Bilder heute: Als Vorhang zu Mozarts „Entführung aus dem Serail“sieht man im „Haus für Mozart“zunächst eine Szene vom Deckenfresko des heutigen „Karl-Böhm-Saals“der Felsenreitschule von Rottmayr und Lederwasch, 1690. Es geht ums „Türkenkopfstechen“im Ausbildungsprogramm der Kavallerie: Reiterangriffe auf „Türkenpuppen“.
Dann senkt sich eine Filmleinwand herunter und man sieht eine „Vorgeschichte“, 1976. Ein Konkurrent spannt dem Filmregisseur die Frau aus, er verliert Geliebte, Beruf, Karriere und verlässt Paris. Heute ist er Muslim – eine kurze Gebetsszene deutet es später an – und hat in seinem Beruf wieder Fuß gefasst. Gerade produziert er einen Spot über eine Airline: Für den Auftrittschor steckt der Salzburger Bachchor in Flugbegleiterkostümen, und der Bordservicewagen, der später auch als Ausschank für die Trinkszene in Mozarts Singspiel dienen wird, trägt als Emblem einen fliegenden Teppich. Doch mehr als das: Der Regisseur wird den „Hauptfilm“, die Entführung, selbst inszenieren, sein Bediensteter Osmin ist eingeweiht, und beim eben erwähnten Bacchus-Duett ist nicht er, sondern Pedrillo sternhagelvoll.
Wir befinden uns also auf einem Filmset, und der Regisseur ist Bassa Selim, der versucht, sein Trauma zu verarbeiten. Denn er hat mit Konstanze die Braut des Sohnes seines früheren Feindes in seiner Hand und will sich an ihr schadlos halten, sie zur Liebe zwingen. Ihre Standhaftigkeit freilich beeindruckt ihn so, dass er ihr Aufschub um Aufschub gewährt. So weit sind wir dann doch wieder im „Plot“von Mozart.
Die Geschichte nimmt aber nochmals eine andere Wendung. Selim muss einsehen, dass er mit dem von ihm gewollten Ausgang aus seiner Geschichte gescheitert ist. Vor allem Konstanze spielte die „Hauptrolle“nicht so, wie sie sollte. Weil sie nicht wollte. Also heißt der umgeplante Film: „Vergib uns, Herr“.
So steht es jetzt im geänderten Text der Regisseurin Andrea Moses, die Mozarts „Entführung aus dem Serail“zum Auftakt der Salzburger Mozartwoche am Freitag zur Premiere brachte. Selims Verzeihen ist also nicht humaner Einsicht geschuldet, sondern zornbebendem Nicht-mehr-anders-Können. „Spielt das wenigstens begabt, kurz und knapp.“Und dann eben ab mit euch in euer Heimatland!
Was sich dramaturgisch in dieser Neu- oder Umdeutung durchaus stringent lesen mag, scheitert leider in der Umsetzung auf der Bühne ziemlich kläglich. Was der Regisseurin zu den Figuren einfällt, zu Aktion und Interaktion, ist bestenfalls heterogenes Mischmasch ohne erkennbare oder gar spannend nachvollziehbar entwickelte Richtung: Konstrukt und Behauptung stehen über zwingender Charakterzeichnung, die weder im Ernst noch in der – in Mozarts Singspiel reichlich vorhandenen – Komik gelingt.
Womöglich ist das auch dem Niemandsraum von Jan Pappelbaum geschuldet, einer leeren Fläche, über der drückend das „Serail“hängt: eine von einem Goldlamettavorhang verhüllte Kissen- und Teppichlandschaft mit „europäisch“furnierter Bibliothek. Der Bassa ist ein gelehrter Mann, „abendländisch“geprägt und aufgeklärt. Aber in diesem und mit diesem Raum, der gelegentlich auf und nieder schwebt wie das Zitat eines fliegenden Teppichs oder bedrohlich kippt, spielt nichts: ein lebloser, neutraler Ort ohne Eigenschaften.
Schade sind die eklatanten Leerstellen vor allem deswegen, weil die vokalen, aber auch die schauspielerischen Qualitäten der Protagonisten von hohem Rang sind. René Jacobs ist ein die Sänger verstehender Dirigent, also kommen auch kleinere Stimmen wie Nikola Hillebrand als Blonde oder Robin Johannsen in der komplexen Rolle der Konstanze gut über die Distanz. Jacobs schwört ja – und besetzt auch danach – auf einen intimen Tonfall, nicht auf großes Lust- oder Leidenspathos.
Einnehmend sind Timbre und leicht geführte, trotzdem sicher fundierte Stimmkraft von Sebastian Kohlhepp als Belmonte und der mit so markantem wie flexiblem Tenorvolumen ausgestattete Julien Prégardien als Pedrillo: einmal kein Buffo-Leichtgewicht. Wunderbar schmiegsam, in keinem Moment übertrieben und ohne Druck auch die tiefsten Noten erreichend, wird der jugendliche, fern jeder Übertreibungskomik agierende Osmin von David Steffens zur still herausragenden Gestalt in diesem sorgfältig abgemischten Quintett.
Bassa Selim spricht, weil er nicht singen kann. Er muss Emotionen verdrängen oder sublimieren. Peter Lohmeyer schreitet den Abend lang mit Künstler-Seidenschal, heller Hose und Jacke (Kostüme: Svenja Gassen) wie ein Double des großen Regisseurs Hans Neuenfels durch die Handlung, arrangiert das Set, liebt leidend oder leidet verliebt und spricht gemessen und strukturiert die originalen und neu erfundenen Texte. Am Ende aber findet er doch Töne. Jedenfalls singt er die Schlussrefrains mit.
Insgesamt aber bleibt auch musikalisch vieles schal. So akkurat und klangrhetorisch wach die Akademie für Alte Musik aus Berlin spielt, so viele Details und Farben hörbar werden, so wenig reißt ihre Klangrede diesmal mit. Seltsam: Die hoch zu lobende CD-Einspielung, die René Jacobs und das Orchester als faszinierendes Hör-Theater herausgebracht haben (mit famos ausgestalteten Hammerklavier-Kommentaren, die in Salzburg jetzt deutlich reduziert sind), atmet und pulsiert wesentlich dramatischer, witziger und energiereicher. Im „Haus für Mozart“verpufft viel Wirkung und bleibt oft nur mürbe Klangkulisse.
In der obligaten Schlacht zwischen Bravos und Buhs hörte man am Ende – für Mozartwochen-Verhältnisse – erstaunlich deutlich artikuliertes Missfallen.