Daniel Kehlmann reüssiert in München
Warum sollten eines Terrorangriffs nur muslimische Männer verdächtigt werden? Daniel Kehlmann, dessen jüngster Roman „Tyll“soeben stapelweise in Buchhandlungen liegt, schickt dafür eine Philosophin in sein neues, derzeit für Besucher des Münchner Residenztheaters einsichtiges Denklabor. Dass diese Professorin extrem viel im Schilde führt, bringt die Schauspielerin Sophie von Kessel in der Neuinszenierung von „Heilig Abend“, die am Freitag Premiere hatte, von der ersten Szene an faszinierend wie eindringlich zur Geltung. Wie ein gefangenes, aber längst nicht gebändigtes Raubtier kauert sie unter einer Waschmuschel, an deren Abfluss sie per Handschelle so lang fixiert ist, bis der Polizist zurückkommt, um sie zu verhören.
Das Zwei-Personen-Stück „Heilig Abend“ist – nach „Geister in Princeton“und „Der Mentor“– Daniel Kehlmanns drittes Theaterstück. Nach der Uraufführung im Josefstädter Theater in Wien hat es ResidenztheaterIntendant Martin Kušej nun ebenso nach München geholt wie Thomas Birkmeir, Direktor des Theaters der Jugend in Wien. Dieser jagt als Regisseur die beiden Schauspieler durch einen in Spieltempo wie emotioneller Temperatur abwechslungsreichen Parforceritt voller psychologischer Volten – sei’s Bezirzen oder Brutalität, seien es abgründige Angst oder draufgängerisches Simulieren, seien es Annäherungsversuche über philosophische Fragen oder der verzweifelte Ruf des Polizisten „Wo ist die Bombe!?“.
Einmal sogar lässt der Schauspieler Michele Cuciuffo aus dem sonst souverän abgebrühten Polizisten das Grauen bersten: Jahrelang hat er dank digitaler Überwachung haufenweise Indizien gesammelt und jetzt, kurz vor dem Ultimatum, ist er dieser höchst verdächtigen Philosophin habhaft, die sich über die unaufhaltsam gierige Ausbeutung der Europäer in Afrika erzürnt.
Aber was blüht uns und ihm, dem polizeilichen Ermittler, wenn die Bombe doch um Mitternacht platzt? Oder kann sich diese möglicherweise harmlose Frau aus einer falsch geknüpften Indizienkette der digitalen Permantüberwachung nicht mehr retten? Dass Daniel Kehlmann solche Fragen intelligent in Schwebe hält, kosten Sophie von Kessel und Michele Cuciuffo zu darstellerischen Glanzleistungen aus. Um 24 Uhr Bühnenzeit lässt es Thomas Birkmeir tatsächlich krachen – doch sogar da bleibt unklar: War das auch die Bombe?
Theater: „Heilig Abend“, von Daniel Kehlmann, Regie: Thomas Birkmeir, Residenztheater München.