Das Unheimliche unterläuft die Vernunft
Die Logik und das Mysteriöse spielen auch in Haruki Murakamis neuem Roman zusammen. Der Autor schafft eine Liebeserklärung an die Kunst.
Ein junger Mann fällt aus allen Wolken. Als Porträtmaler hatte er Erfolg. Dann trennt sich seine Frau von ihm, der Grund ist ihm nicht einsichtig, und jetzt nimmt er sich eine Auszeit. Er reist ziellos durch Japan bis er in einem entlegenen Haus in den Bergen unterkommt. Dort hofft er, zu sich und einem neuen Malstil zu finden. Doch die Oase der äußeren Ruhe wird zum inneren Konfliktherd.
Der Roman „Die Ermordung des Commendatore“, dessen erster Band nun in deutscher Übersetzung vorliegt, ist ein typischer Murakami. Die Normalwelt wird aufgebrochen. Darunter führt das Unerklärliche, Mysteriöse, Geheimnisvolle ein Eigenleben. Aus dem Verborgenen heraus greift es in das Leben der Menschen ein, die um ihren klaren Verstand gebracht werden. Davon erzählt Murakami, einmal besser, einmal schlechter, Buch um Buch. Diesmal gelingt es ihm, die verwickelten Zusammenhänge von Vernunft und Wunder bemerkenswert einleuchtend aufzudröseln. Denn er verlegt sich auf den Bereich der Kunst, wo mit der Logik niemand sein Auslangen findet.
Oben in der Bergeinsamkeit berühren einander Gegenwart und Vergangenheit, Mythos und Zeitgeschichte, der kühle Hauch des Verstandes und der heiße Atem des Unerklärbaren. Der Roman ist eine Verzichterklärung auf das Prinzip der Wahrscheinlichkeit. Was diesem Erzähler unterkommt, geht in keinen griffigen Handlungs- und Denkmustern auf. Obendrein gelingt Murakami eine grandiose Liebeserklärung an die Wirkmacht von Kunst, die, wenn bedeutend genug, nie zu Ende erklärt werden kann.
Am Beispiel eines Bildes, der Hinterlassenschaft eines Malers, der das Haus vorher bewohnt hat, wird das deutlich. Es zeigt eine Szene aus der japanischen Mythologie, in der ein jüngerer Mann offenbar im Verlauf eines Duells ein Schwert in die Brust eines älteren stößt. Beobachtet wird die Szene von einer jungen Frau und einem Mann. Das Bild ist meisterhaft ausgeführt, eine Aura geht von ihm aus. Dann wird der Erzähler darauf aufmerksam, dass es sich um einen Moment aus Mozarts „Don Giovanni“handeln könnte. Don Giovanni ermordet den Commendatore, Donna Anna, dessen Tochter, sieht fassungslos zu, der Diener Leporello steht etwas abseits. Die Interpretation leuchtet ein, doch bietet sich noch eine dritte an: In jungen Jahren hielt sich der Maler des Bildes in Österreich auf, wo er den „Anschluss“an Deutschland mitbekam. Eine Widerstandskämpferin soll seine Freundin gewesen sein. Möglich, dass das Bild erzählt, wie der Künstler vor den Augen der Freundin einen Nazi umbringt. Damit wäre die überstürzte Heimkehr nach Japan erklärbar.
Alle Deutungen wirken plausibel. Zu vermuten ist, dass der Erzähler selbst nicht nur Betrachter ist, sondern tief in die Szene verwickelt ist. Immerhin steht er im Zentrum einer Reihe denkwürdiger Vorkommnisse. Dafür fährt Murakami Elemente der Schauerromantik auf, die Grenze zur Albernheit ist dabei dürftig bewacht.
Was unterscheidet Murakami von jenen Künstlern, die er so hochhält? Er ist ein zielorientierter Autor, dem seine Geschichte alles bedeutet. Dafür verzichtet er auf ausgeklügelte Spracharbeit und formale Kühnheit. Eine Entschlackungskur hätte dem Text gut getan, um Redundanzen zu vermeiden. Der für April angekündigte zweite Band soll in Kürze dem säkularen Mysterienspiel weitere Facetten beifügen.