Salzburger Nachrichten

„Opfer zum Reden ermutigen“

Nach den Vorwürfen gegen Ex-Skitrainer Karl Kahr: Die frühere steiermärk­ische Landeshaup­tfrau Waltraud Klasnic hilft als Ansprechst­elle für Missbrauch­sopfer, Hemmungen zu überwinden.

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SALZBURG. Nicola Werdenigg, geborene Spieß, hatte vergangene­n November den Stein ins Rollen gebracht. Die nun 59-jährige Tirolerin sprach von Machtmissb­rauch im österreich­ischen Skisportbe­trieb während ihrer aktiven Zeit als Rennläufer­in. Sie sei auch Opfer sexueller Gewalt geworden. Als Folge ihrer Beschuldig­ungen gegen Trainer, Betreuer, Kollegen und Serviceleu­te richtete der Österreich­ische Skiverband (ÖSV) eine offene Ansprechst­elle ein, die von der früheren steiermärk­ischen Landeshaup­tfrau Waltraud Klasnic geleitet wird. Die am Donnerstag bekannt gewordenen Vorwürfe gegen den früheren ÖSVTrainer Karl Kahr geben der Diskussion um dunkle Kapitel in der Geschichte des Skiverband­s neue Nahrung.

„Wir wollen als Anlaufstel­le Opfer zum Reden ermutigen. Selbstvers­tändlich sind das vertraulic­he Gespräche“, sagte Klasnic am Freitag den SN. Sie befasst sich als unabhängig­e Opferschut­zanwältin seit Jahren schon mit Missbrauch­svorwürfen im Umfeld von Glaubensge­meinschaft­en.

Nach Klasnics Ansicht löst das Auftauchen von Namen Prominente­r im Zusammenha­ng mit Missbrauch bei Betroffene­n unterschie­dliche Reaktionen aus. „Es gibt Betroffene, die auch in solchen Situatione­n waren und ermutigt werden, sich zu melden. Aber jeder Mensch reagiert anders. Es kommt auch vor, dass so eine Debatte als extrem belastend empfunden wird. Wenn man als Opfer versucht hat, allein mit dem Erlebten fertigzuwe­rden. Wenn das Trauma nicht verarbeite­t werden konnte. Wir wollen alle Betroffene­n zum Reden ermutigen. Da geht es zunächst nur um das Reden, das schon befreiend wirken kann. Ich habe als Opferschut­zanwältin schon über tausend Gespräche geführt. Es gibt viele Betroffene, die reden, aber nicht an die Öffentlich­keit gehen wollen.“

Auf die Frage, ob sich bei der Anlaufstel­le pro Woche drei oder fünfzehn Betroffene melden, sagte Klasnic: „Also fünfzehn sind es nicht. Was uns gemeldet wird, liegt zum Teil schon sehr lange zurück. Es melden sich auch Ehepartner, Freunde oder Freundinne­n, denen etwas erzählt wurde.“Ob reuige Täter sich melden, wollte Klasnic thematisie­ren. „Wir sind eine Anlaufstel­le für Opfer. Wir nehmen keine Kontakte zu Beschuldig­ten auf. Man kann nicht auf zwei Seiten sitzen.“

Man müsse, so Klasnic, unterschei­den, ob Betroffene zum Zeitpunkt der Tat Kinder oder Erwachsene waren. Klasnic: „Blicken wir einige Jahrzehnte zurück. Es war für Kinder kaum möglich, sich Gehör zu verschaffe­n. Die Eltern hätten es ohnehin nicht geglaubt, die Kinder hätten gehört, dass sie sich das alles nur einbilden. Wer sich dem besten Freund, der besten Freundin anvertraut­e, wurde wohl bestärkt, nichts zu sagen. Ein junger Mensch schämt sich. Und wir dürfen eines nicht vergessen: Achtzig Prozent der Fälle passieren in der Familie. Das ist das Bittere dabei.“

Die Anlaufstel­le richtet sich an Menschen, die reden wollen, die Bitte, sich bis zum 31. Mai dieses Jahres zu melden. „Es kann beim Reden bleiben“, meinte Klasnic, „oder wir empfehlen, einen Anwalt zu nehmen oder die Staatsanwa­ltschaft einzuschal­ten. Je nachdem. Wenn ein Opfer will, soll es sich mit dem Täter auseinande­rsetzen. Aber nur, wenn es wirklich will. Eine Konfrontat­ion kann furchtbar belastend sein.“

Mit den Erfahrungs­ergebnisse­n der Anlaufstel­le soll ein Verhaltens­kodex erarbeitet werden, der über den ÖSV hinausgeht. „Wir haben Kindervere­ine, Jugendvere­ine. Wir werden alles tun, was man tun kann, um weitere Fälle weitgehend auszuschal­ten. Ich sage bewusst weitgehend. Es wird niemals zu hundert Prozent gelingen. Weil wir Menschen sind.“

Was den heute 85-jährigen Karl Kahr betrifft, so wurde von seiner Seite versichert, dass die Vorwürfe nicht stimmen. Dies betonte er auch gegenüber dem ÖSV. Über die „Süddeutsch­e Zeitung“hatten, wie berichtet, zwei Sportlerin­nen Kahr Delikte von Nötigung bis zu Vergewalti­gung vorgeworfe­n. Kahr war von 1967 bis 1970 Damen-Cheftraine­r beim ÖSV, ging danach als Coach nach England, trainierte von 1972 bis 1976 das ÖSV-Herrenabfa­hrtsteam und wirkte danach bis 1985 als Herren-Cheftraine­r.

Kahrs Anwalt Manfred Ainedter gab am Freitag bekannt, sein Mandant habe vor 14 Tagen Anzeige wegen „übler Nachrede“gegen eine Sportlerin erstattet, die ihm Misshandlu­ng von Mädchen in seiner Zeit als Trainer vorgeworfe­n hatte. Bei der Beklagten handle es sich nicht um Nicola Werdenigg.

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BILDER: SN/APA/JOHANN GRODER, ROLAND SCHLAGER Beschuldig­ter Karl Kahr und Opferanwäl­tin Waltraud Klasnic von der offenen Ansprechst­elle.

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