Ein Mann weint tränenlos
Bosnien. Ein Roman voller Geschichten schildert Krieg, Flucht und die heutigen Folgen.
Wenn österreichische Romane nicht in der Heimat spielen, dann können ihnen die Schauplätze nicht weit genug entfernt sein. Kärnten oder Indien: das ist die Alternative bei Josef Winkler. Auch exotische, fast unentdeckte Orte stehen hoch im Kurs – dafür sind Raoul Schrott und Christoph Ransmayr zuständig. Andere Prosabände suchen Weltstädte wie New York oder London auf. Auf der Strecke bleiben die Nachbarländer, und auch über ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs finden die ehemals kommunistischen Länder kaum Eingang in österreichische Romane. Wir haben zwar Karl-Markus Gauß und Martin Pollack als literarische Sonden im europäischen Osten, aber die fiktionale Prosa hat diese Region nicht im Blick; Ausnahmen wie der Roman „Die große Freiheit des Ferenc Puskás“von Evelyn Schlag sind schnell aufgezählt. Erst in den letzten Jahren haben jüngere Autorinnen wie Cordula Simon („Der potemkinsche Hund“, 2012), Katharina Johanna Ferner („Wie Anatolij Petrowitsch Moskau den Rücken kehrte und beinahe eine Revolution auslöste“, 2015) oder Verena Mermer („Die Stimme über den Dächern“, 2016) ihre Romane in dieser Weltgegend angesiedelt.
Umso mehr Aufmerksamkeit verdient der Roman „Phantome“von Robert Prosser, der sich dem Bosnien-Krieg widmet und seine Folgen bis in die Gegenwart vorführt. Der erste Teil lässt einen Wiener GraffitiSprayer im Jahr 2015 erzählen. Durch seine Freundin Sara wird er hineingezogen in Geschichte und Gegenwart Bosniens, denn deren Mutter ist 1992 nach Wien geflohen. So fährt er 2014 mit Sara zu den Antiregierungsdemonstrationen nach Tuzla. „Unzählige Menschen und ich der einzige Exot darunter, der nichts kapierte“– so fasst er seine Erfahrungen zusammen.
Immer intensiver wird der Erzähler von Bosnien in den Bann gezogen, er liest sich ein auf den Krieg und nimmt die Gegenwart wahr – die Traumata wie die Partys und die Musik, das Turbo-Leben, das die Erinnerung überdeckt. Es fasziniert, wie viele Begegnungen und Geschichten in dem ersten Teil Platz finden, wie farbig und heterogen das Bild Bosniens gerät und wie der Erzähler sein Unwissen thematisiert – das nicht nur sein eigenes ist, sondern das Vergessen dieses Krieges in Österreich und Europa.
Der zweite Teil des Romans spielt im Jahr 1992 und erzählt von Anisa, Saras Mutter, die bosnische Muslimin ist, und ihrem damaligen Freund Jovan, einem bosnischen Serben. In kurzen Sequenzen werden abwechselnd Anisas Flucht nach Wien und Jovans Erfahrungen als Soldat in Bosnien erzählt. Durch seinen Blick kommen viele weitere Geschichten in die Erzählung, und es sind Szenen darunter, die man nicht vergisst, etwa die des alten Mannes ohne Augen, der tastend einen Toten zu identifizieren versucht und tränenlos weint; oder die sterbende Frau, die Jovan entdeckt, weil sie in der Nacht aus der Ferne seine Sevdalinka, sein bosnisches Lied mitgesungen hat. Hier zeigt sich, wie das Erzählen alle fotografischen Momentaufnahmen von Kriegsgräueln in den Schatten stellt. Manchmal ergeht es einem so wie dem Erzähler des ersten Teils, der sagt: „In Wien spannen mich die Geschichten Anisas ein, lösten Bilder in mir aus, von einer verlorenen Jugend und einem winzigen, abgelegenen Dorf in den bosnischen Bergen, in Srebrenica dagegen rissen mir die Geschichten den Boden unter den Füßen weg, fühlte ich mich wie in freiem Fall.“Anisa sehen wir vor allem in der Wiener Notunterkunft, in der sie versucht, zu vergessen und ein neues Leben zu beginnen. Der Erzähler zeichnet ihre fragile Existenz psychologisch stimmig und vermag Gefühle so präzise zu beschreiben wie Gedanken, Erlebnisse und Landschaften.
Im dritten Teil führt Jovan im Jahr 2015 einen inneren Monolog. Auch er ist in Österreich – in der Strafanstalt Stein. Er hat bei einem Einbruch einer serbischen Gruppe in ein Wiener Juweliergeschäft mitgemacht. In der Haft rekapituliert er die Zeit nach dem Krieg. Über einen Besuch in Belgrad denkt er: „Vielleicht war die Lektion, die ich in der Stadt zu machen hatte, die, dass man die Vergangenheit nicht aufstört, weil sie dir sonst in den Leib fährt und dich zittern lässt wie einen Epileptiker.“
Robert Prosser hat viele Recherchen unternommen und daraus eine überzeugende Prosa gestaltet. Einzuwenden wären sprachliche Details, die ein Lektorat hätte beseitigen können. Oder vielleicht geht es gar auf das Lektorat zurück, dass ein Wiener Erzähler Phrasen wie „Zumindest mal übern Sommer“oder „Jungs und Mädels“gebraucht, an anderer Stelle jedoch „Ribisel“verwendet. Es finden sich auch defekte und groteske Sätze wie: „Rahim saß auf der Schaukel, von seinem Großvater an die Buche im Garten gehängt.“Diese Details fallen nur bedingt ins Gewicht, denn Robert Prosser hat mit „Phantome“einen wichtigen Roman vorgelegt, der das Trauma Bosnien aus der Außenperspektive erzählt und in seinen sprachlichen Bildern durchwegs überzeugt.
Robert Prosser: „Phantome“, Roman, 336 Seiten, Verlag Ullstein fünf, Berlin 2017.