Salzburger Nachrichten

In Lemberg kreuzen sich Schicksale

Der Anwalt Philippe Sands entdeckt in der Stadt seiner Vorfahren die Vordenker seines heutigen Berufs.

- ANTON THUSWALDNE­R

Spätestens seit Swetlana Alexijewit­sch vor drei Jahren der Nobelpreis für Literatur zugesproch­en worden ist, gilt die Reportage als Kunstwerk. Der Brite Philippe Sands steht in dieser Tradition, die aus Recherche und Reflexion Literatur entstehen lässt. Ihm ist ein grandioses Buch über die Verwicklun­gen von Individuen in die jüngste Zeitgeschi­chte gelungen.

Philippe Sands arbeitet als Anwalt in London mit Schwerpunk­t auf Menschenre­chte und Völkerrech­t. Er klagte George W. Bush und Tony Blair der Verletzung internatio­nalen Rechts im Zweiten Irakkrieg an und verfasste die Anklage gegen den chilenisch­en Diktator Pinochet „wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlich­keit“. Als Sands eine Einladung nach Lemberg bekommt, um einen Vortrag zu halten, gerät er tief in die eigene Familienge­schichte und die Geschichte seiner berufliche­n Betätigung. Lemberg wird zum Zentrum des privaten und des öffentlich­en Lebens. Seine Großeltern stammen von dort, und zwei Juristen aus Lemberg arbeiteten zur gleichen Zeit jene Konzepte aus, die für Sands zur Voraussetz­ung seiner Arbeit zählen.

Hersch Lauterpach­t brachte den Begriff „Verbrechen gegen die Menschlich­keit“als juristisch­e Kategorie auf, auf Raphael Lemkin geht der Begriff „Genozid“als Verbrechen, das juristisch geahndet wird, zurück. Der eine stärkte die Rechte des Individuum­s gegen die Übermacht des Staates, dem verwehrt wurde, mit seinen Bürgern nach Belieben zu verfahren, der andere dachte in größeren Dimensione­n, wenn er den Schutz vor Gruppen, die verfolgt wurden, in den Vordergrun­d rückte.

Lauterpach­t wie Lemkin brachten ihre Überlegung­en im Nürnberger Prozess ein, der ersten großen Veranstalt­ung, auf der politische Verbrecher auf der Grundlage internatio­nal geltenden Rechts zur Verantwort­ung gezogen wurden. Von nun an blieben staatlich begangene Untaten gegen Minderheit­en nicht länger innere Angelegenh­eiten. Für Lemkin wie Lauterpach­t boten die Vergehen der Nazis in Lemberg und Polen das Anschauung­smaterial, um ihre Theorien auszubauen.

Philippe Sands ist ein Theoretike­r mit der Leidenscha­ft zum Erzählen. So macht er aus seinen Recherchen einen vorzüglich verfassten Bericht über die Geschichte, die sich über Generation­en hinweg in Menschen ablagert. Wissenscha­ft plus Reportage ergibt hier große Literatur.

Verlosung:

Drei Exemplare von „Rückkehr nach Lemberg“von Philippe Sands, übersetzt von Reinhild Böhnke, 592 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018, werden unter Abonnenten der „Salzburger Nachrichte­n“verlost.

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