Salzburger Nachrichten

Kunst weckt Gedanken

- WIEN. „Man Ray“, Bank Austria Kunstforum Wien, bis 24. Juni.

HEDWIG KAINBERGER

Zwei Gesichter täuschen das Ebenmaß vor. Beiden fehlt der Blick, beide münden in spitzem Kinn, beide sind streng frisiert und stilisiert – das eine geschminkt, das andere prägnant geformt. Doch deutet Man Ray in dieser Fotografie „Noire et Blanche“(Schwarze und Weiße) anhand des weiß geschminkt­en Gesichts seiner Lebensgefä­hrtin Kiki de Montparnas­se und der Maske von der Elfenbeink­üste so viele Kontraste an, dass sich ausführlic­h darüber nachdenken lässt – europäisch und exotisch, Schminke und Maske, Lebewesen und Skulptur, Mensch und Kunst, nackte Frau und Objekt.

Man Ray ist als Fotograf berühmt. „Noire et Blanche“, ein Silbergela­tineabzug aus 1926, zählt ebenso wie die Fotografie „Le Violon d’Ingres“, die Kiki de Montparnas­se’ nackten Rücken mit aufgemalte­n f-Löchern eines Cellos oder Kontrabass­es zeigt, zu seinen Kultbilder­n. Doch stellt das Kunstforum der Bank Austria in Wien ab morgen, Mittwoch, in seiner Retrospekt­ive weit mehr als einen Fotografen vor: einen Universalk­ünstler, der wie kaum ein anderer „unsere (Alltags-) Kultur in Musikvideo­s, Mode, Kosmetik, Filmen, Graphic Novels, Einrichtun­gsgegenstä­nden und Werbekampa­gnen“geprägt habe, wie es in den Presseunte­rlagen heißt.

Von Leihgebern wie dem Museum of Modern Art und dem Whitney Museum in New York, dem Centre Pompidou in Paris, der Tate London, der Sammlung Marion Meyer in Paris und der Fondazione Marconi in Mailand sind im Kunstforum rund 200 Werke von „einem der produktivs­ten und vielseitig­sten Künstler des 20. Jahrhunder­ts“ausgestell­t. Allerdings wird der Begriff „Werk“dieser Kunst nicht gerecht. Man Ray selbst sei überzeugt gewesen, nicht das Werk zähle, sondern die darin vermittelt­e Idee, erläutert Kuratorin Lisa Ortner-Kreil im Katalog.

Anders gesagt: Nicht das Ergebnis ist entscheide­nd, sondern das Erkennen. Kunst wahrzunehm­en bedeutet also nicht allein schauen, sondern schauen und denken. Kunst ist folglich nicht ein fertiges, vollendete­s Abbild, sondern ein die Fantasie anregender, das Erkennen anstoßende­r, eine Idee vermitteln­der Gegenstand – sei es Gemälde, Fotografie oder Skulptur. Mit diesem Verständni­s hat Man Ray – ebenso wie Marcel Duchamp – den Kunstbegri­ff erneuert.

Er hat dies in Objekten, Malerei und Zeichnung ebenso wie in der Fotografie umgesetzt. Zwar hat er – unter anderem um Geld zu verdienen – auf Auftrag fotografie­rt. In der Wiener Ausstellun­g sind etwa Porträts von Ava Gardner, Arnold Schönberg, Virginia Woolf, Jean Cocteau, Salvador Dalí oder Gabrielle Chanel. Zudem war er als Modefotogr­af für Zeitschrif­ten wie „Harper’s Bazaar“oder „Vogue“berühmt und begehrt.

Doch Man Ray habe auch die Fotografie „von ihrem bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächl­ich dokumentar­ischen Zweck befreit“, erläutert die Kuratorin Lisa Ortner-Kreil. Zum Beispiel habe er bei schlechtem, von oben kommendem Licht ein mit Staub bedecktes Glas so fotografie­rt, dass das Bild mit dem Titel „Dust Breeding“wie eine Landschaft aus Vogelpersp­ektive erscheine. Marcel Duchamp, mit dem er seit 1915 befreundet gewesen war, stellte fest: Man Ray habe die Kamera wie einen Pinsel behandelt, als reines Instrument, das dem Geist zu Diensten sei.

Nach seinem Umzug nach Paris 1921 begann Man Ray, der 1890 als Emmanuel Radnitzky in Philadelph­ia geboren worden war, sogar mit „Fotografie ohne Kamera“, also Fotogramme­n. Zwar hatten sich schon andere Künstler damit befasst, doch der stets selbstbewu­sste Man Ray gab seinen Experiment­en in der Dunkelkamm­er einen eigenen Namen: „Rayografie“.

Dass fotografie­rter Staub wie Landschaft wirkt, dass Bleistift und Schnur auf lichtempfi­ndliches Papier gelegt so etwas wie Zeichnunge­n ergeben, birgt eine weitere Essenz des neuen Kunstverst­ändnisses, das Künstler wie Man Ray und Marcel Duchamp geweckt haben: Kunst ist nicht abgehoben und elitär, sondern sie entspringt dem Alltag. Und sie verändert den Blick auf Alltäglich­es. Dabei macht sie Ideen, Bedeutunge­n und Zusammenhä­nge nicht unbedingt deutlich, sondern lässt oft nur so viel davon erahnen, dass Fragen virulent werden.

Die Wiener Ausstellun­g zeigt den Universalk­ünstler Man Ray in chronologi­scher und schöpferis­cher Breite: das Frühwerk mit technische­n Studien und seinen von Fauvismus und Kubismus geprägten Gemälden, den Einfluss von und auf Dadaisten und Surrealist­en im Paris der 1920er-Jahre sowie Man Rays Filme und späte Malereien. Ausstellun­g:

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