Kunst weckt Gedanken
HEDWIG KAINBERGER
Zwei Gesichter täuschen das Ebenmaß vor. Beiden fehlt der Blick, beide münden in spitzem Kinn, beide sind streng frisiert und stilisiert – das eine geschminkt, das andere prägnant geformt. Doch deutet Man Ray in dieser Fotografie „Noire et Blanche“(Schwarze und Weiße) anhand des weiß geschminkten Gesichts seiner Lebensgefährtin Kiki de Montparnasse und der Maske von der Elfenbeinküste so viele Kontraste an, dass sich ausführlich darüber nachdenken lässt – europäisch und exotisch, Schminke und Maske, Lebewesen und Skulptur, Mensch und Kunst, nackte Frau und Objekt.
Man Ray ist als Fotograf berühmt. „Noire et Blanche“, ein Silbergelatineabzug aus 1926, zählt ebenso wie die Fotografie „Le Violon d’Ingres“, die Kiki de Montparnasse’ nackten Rücken mit aufgemalten f-Löchern eines Cellos oder Kontrabasses zeigt, zu seinen Kultbildern. Doch stellt das Kunstforum der Bank Austria in Wien ab morgen, Mittwoch, in seiner Retrospektive weit mehr als einen Fotografen vor: einen Universalkünstler, der wie kaum ein anderer „unsere (Alltags-) Kultur in Musikvideos, Mode, Kosmetik, Filmen, Graphic Novels, Einrichtungsgegenständen und Werbekampagnen“geprägt habe, wie es in den Presseunterlagen heißt.
Von Leihgebern wie dem Museum of Modern Art und dem Whitney Museum in New York, dem Centre Pompidou in Paris, der Tate London, der Sammlung Marion Meyer in Paris und der Fondazione Marconi in Mailand sind im Kunstforum rund 200 Werke von „einem der produktivsten und vielseitigsten Künstler des 20. Jahrhunderts“ausgestellt. Allerdings wird der Begriff „Werk“dieser Kunst nicht gerecht. Man Ray selbst sei überzeugt gewesen, nicht das Werk zähle, sondern die darin vermittelte Idee, erläutert Kuratorin Lisa Ortner-Kreil im Katalog.
Anders gesagt: Nicht das Ergebnis ist entscheidend, sondern das Erkennen. Kunst wahrzunehmen bedeutet also nicht allein schauen, sondern schauen und denken. Kunst ist folglich nicht ein fertiges, vollendetes Abbild, sondern ein die Fantasie anregender, das Erkennen anstoßender, eine Idee vermittelnder Gegenstand – sei es Gemälde, Fotografie oder Skulptur. Mit diesem Verständnis hat Man Ray – ebenso wie Marcel Duchamp – den Kunstbegriff erneuert.
Er hat dies in Objekten, Malerei und Zeichnung ebenso wie in der Fotografie umgesetzt. Zwar hat er – unter anderem um Geld zu verdienen – auf Auftrag fotografiert. In der Wiener Ausstellung sind etwa Porträts von Ava Gardner, Arnold Schönberg, Virginia Woolf, Jean Cocteau, Salvador Dalí oder Gabrielle Chanel. Zudem war er als Modefotograf für Zeitschriften wie „Harper’s Bazaar“oder „Vogue“berühmt und begehrt.
Doch Man Ray habe auch die Fotografie „von ihrem bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich dokumentarischen Zweck befreit“, erläutert die Kuratorin Lisa Ortner-Kreil. Zum Beispiel habe er bei schlechtem, von oben kommendem Licht ein mit Staub bedecktes Glas so fotografiert, dass das Bild mit dem Titel „Dust Breeding“wie eine Landschaft aus Vogelperspektive erscheine. Marcel Duchamp, mit dem er seit 1915 befreundet gewesen war, stellte fest: Man Ray habe die Kamera wie einen Pinsel behandelt, als reines Instrument, das dem Geist zu Diensten sei.
Nach seinem Umzug nach Paris 1921 begann Man Ray, der 1890 als Emmanuel Radnitzky in Philadelphia geboren worden war, sogar mit „Fotografie ohne Kamera“, also Fotogrammen. Zwar hatten sich schon andere Künstler damit befasst, doch der stets selbstbewusste Man Ray gab seinen Experimenten in der Dunkelkammer einen eigenen Namen: „Rayografie“.
Dass fotografierter Staub wie Landschaft wirkt, dass Bleistift und Schnur auf lichtempfindliches Papier gelegt so etwas wie Zeichnungen ergeben, birgt eine weitere Essenz des neuen Kunstverständnisses, das Künstler wie Man Ray und Marcel Duchamp geweckt haben: Kunst ist nicht abgehoben und elitär, sondern sie entspringt dem Alltag. Und sie verändert den Blick auf Alltägliches. Dabei macht sie Ideen, Bedeutungen und Zusammenhänge nicht unbedingt deutlich, sondern lässt oft nur so viel davon erahnen, dass Fragen virulent werden.
Die Wiener Ausstellung zeigt den Universalkünstler Man Ray in chronologischer und schöpferischer Breite: das Frühwerk mit technischen Studien und seinen von Fauvismus und Kubismus geprägten Gemälden, den Einfluss von und auf Dadaisten und Surrealisten im Paris der 1920er-Jahre sowie Man Rays Filme und späte Malereien. Ausstellung: