Sex, Drugs und eine Rockgitarre, die leise Zweifel anmeldet
Einen Film über ihr exzessives Tourleben ließen die Stones einst untersagen. Nun zeigt ihn ein US-Gitarrist in neuem Licht.
Mick Jagger muss sich erst etwas anziehen. In der Unterhose zur Besprechung zu kommen wäre dann doch unpassend. Auch, wenn es das Jahr 1972 ist. Und auch, wenn der Name Rolling Stones in dieser Zeit für die exzessiven Seiten der Rockmusik steht. „Ich bin in zwei Sekunden zurück, muss mir ein Hemd überziehen“, sagt Jagger also zu seinen Gesprächspartnern und verschwindet kurz. Die Kamera bleibt eingeschaltet.
Die Kamera lief auch in vielen anderen Momenten der rauschenden Tournee mit, auf der sich die Stones 1972 mit ihrem Gefolge aus Technikern, Managern, Roadies und Groupies befanden. Die Band war unterwegs, um ihr Album „Exile on Main St.“in den USA zu bewerben. Für das Plattencover hatten sie Bilder des Fotografen und Regisseurs Robert Frank verwendet. Nun baten sie ihn, auch ihr Tourleben zu dokumentieren. Als Verfechter eines ungeschönten Realismus verteilte Robert Frank Kameras, die von allen Anwesenden benutzt werden sollten. So entstand 1972 Material für einen Film, der hinter die Kulissen eines Rockmythos blickte, von dem es sonst meist nur verklärende Erzählungen gab.
Sex, Drogen, Rock ’n’ Roll: Franks Kameras hielten unzensiert den Kokainkonsum von Tourbegleitern hinter der Bühne fest, die GroupieOrgien im Privatflugzeug. Was der Film freilich auch zeigte, war die große Leere zwischen ekstatischen Konzertmomenten und dem Nihilismus, der die Ideale der Rockrevolte allmählich verdrängte.
„Wie weltfremde Monarchen“würden die Stones auf den Bildern inmitten ihrer feierwütigen Entourage manchmal wirken, sagt Chris Forsyth. Der US-Gitarrist hat den Film – so wie die meisten Stones-Fans – nur als Raubkopie kennengelernt. Denn in der Rockgeschichte ist der Streifen nicht nur wegen seines anzüglichen Titels „Cocksucker Blues“berühmt-berüchtigt. Legendär wurde er auch, weil die Stones dem Regisseur letztlich verboten, seinen Film kommerziell zu zeigen. Nur bei Kunstfestivals in Anwesenheit des Regisseurs durfte er vorgeführt werden.
In den 1980er-Jahren kursierte er dennoch auf VHS-Kassetten. Heute ist er auf Onlineplattformen präsent. Die Maßstäbe für Skandalträchtiges haben sich in der Internetära längst verschoben.
Doch zurück in die 70er: In der Ära hat auch Gitarrist Chris Forsyth seine musikalischen Wurzeln. Eher von Bands wie Television als von den Stones ist er beeinflusst. Zwischen Experimental-Rock und freier Improvisation steckt er sein Spielfeld ab. Ein Fan der Stones sei er aber stets gewesen, sagt Forsyth in einem Interview mit dem Magazin „City Paper“: Wie Keith Richards mit offenen Stimmungen spiele, „das hat mir die Augen geöffnet“.
Jetzt verleiht Forsyth dem Stones-Film eine neue Stimmung. In seinem Konzertprojekt „Never Meant to Change the World“ersetzt er den Originalton durch seinen eigenen Soundtrack. Morgen, Mittwoch, gastiert er damit in der Reihe Eleven Empire im Rockhouse.
Forsyth fügt den Bildern live seinen klingenden Kommentar hinzu. Dabei wird hörbar, dass seine E-Gitarre Zweifel an manchem Rock-’n’-Roll-Credo anmeldet. Die Idee etwa, dass Rock die Kraft habe, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern, sei damals sichtbar gescheitert: „Für einen Moment dachten die Leute, die Welt würde sich ändern. Aber das tat sie nicht.“ Termin: