Wie salonfähig ist der Antisemitismus?
Der Antisemitismusbericht 2017 weist eine Verdoppelung der gemeldeten Fälle innerhalb der vergangenen drei Jahre aus. Die Dunkelziffer antisemitischer Übergriffe dürfte hoch sein.
Österreich im Jahr 2017: Hakenkreuz-Schmierereien auf Hausmauern. „Tötet die Juden“-Rufe bei einer Demo vor der US-Botschaft. Ein FPÖ-Mandatar, der von „sogenannten Holocaust-Überlebenden“spricht. Studentenfunktionäre am Wiener Juridicum, die antisemitische Bilder im Internet teilen. „Saujud“-Beschmierungen und Hakenkreuze auf Wahlplakaten. Ein neunjähriger Volksschüler, der einen Mitschüler mit diesen Worten bedroht: „Wärst du Jude, hätte ich dich getreten.“– Nur ein ganz kleiner Auszug aus dem Antisemitismusbericht 2017 des Forums gegen Antisemitismus (FGA), den die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) am Donnerstag in Wien vorstellte.
503 Vorfälle von Antisemitismus wurden dem FGA gemeldet. Das ist eine Verdoppelung innerhalb der letzten drei Jahre. „Wir befinden uns auf einem Allzeithoch“, sagte der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch.
Das Dramatische ist, dass auch die Dunkelziffer sehr hoch sein dürfte. Amber Weinber vom FGA berichtet, wie überrascht sie gewesen sei, als ein orthodoxer Wiener Jude sie gefragt habe, „ab wann“er einen Zwischenfall melden „darf“. Der orthodoxe Jude war im zweiten Wiener Gemeindebezirk eine Straße entlanggegangen, als ein Autofahrer aus dem Wagen stieg, den Mann bespuckte, ihn als „Scheißjuden“beschimpfte und dann seelenruhig in ein Geschäft ging. „Dass uns dieser Herr fragte, ob der Vorfall schon schlimm genug sei, ihn zu melden, veranschaulicht klar, dass wir von einer hohen Dunkelziffer ausgehen müssen“, sagt Weinber.
Besonders bedenklich sei, dass sich auch Vorfälle verdoppelt hätten, bei denen Betroffene persönlich adressiert worden seien, etwa durch Beschimpfungen, Bedrohungen, Briefe, Anrufe, tätliche Angriffe. Dieser Anstieg sei ein weiterer Hinweis darauf, dass es eine Enthemmung aufseiten der Täter gebe, die ihre Ressentiments in einer direkten Konfrontation auslebten. Weinber: „Es ist allgemein salonfähiger geworden, diese Aussagen zu tätigen.“Es zeige sich, „dass Antisemitismus nicht nur ein Thema für die Geschichtsbücher“, sondern sehr präsent sei.
„Wie eine Gesellschaft mit Antisemitismus umgeht, ist ein Gradmesser für den Zusammenhalt“, sagt IKG-Chef Deutsch. Er habe zwar stets die Meinung vertreten, dass „die Politiker“etwas gegen das üble Phänomen tun müssten. Mittlerweile sei er aber nicht mehr der Ansicht, dass dies genüge. „Heute ist jeder Mensch, die gesamte Zivilgesellschaft, aufgefordert, bei jedem Anschein von Antisemitismus oder Rechtsradikalismus oder bei Hassreden etwas dagegen zu tun.“
Zur regionalen Verteilung der Übergriffe gibt es keine Auswertung, die mit Abstand größte jüdische Gemeinde – und damit die meisten Vorfälle – gibt es in Wien. Kultusgemeinde-Präsident Deutsch weist aber darauf hin, dass es im Jahr 2016 auffallend viele Fälle in Salzburg gegeben habe – eine regelrechte Serie von Beschmierungen der Synagoge und auf dem Friedhof.
Der Großteil der gemeldeten Fälle ist übrigens nicht eindeutig einem ideologischen Hintergrund zuzuordnen. Die Vorfälle haben laut dem Forum gegen Antisemitismus zu 24 Prozent einen rechten Hintergrund, zu zehn Prozent einen islamischen und zu drei Prozent einen linken. Die große Frage bleibt unbeantwortet, denn bei 62 Prozent der Fälle ist der Hintergrund unbekannt.
Einerseits werde Antisemitismus von der muslimischen Seite geschürt, andererseits habe man es bei der FPÖ in schöner Regelmäßigkeit mit antisemitischen Vorfällen mit hohen Funktionären zu tun, sagt Deutsch. Das schüre natürlich auch den Antisemitismus. „Das große Problem, das ich damit habe, ist, dass es langsam zu einer Normalität in diesem Land wird.“
Dass die FPÖ nun eine Historikerkommission einsetze, sei grundsätzlich zu begrüßen, sagt Deutsch. Was ihn viel stärker interessiere, sei der „heutige Antisemitismus“. Was habe man davon, wenn man die Geschichte aufarbeite und es komme weiter zu antisemitischen Vorfällen? Man müsse sich nur die diesbezügliche Performance der FPÖ ansehen, seit diese in der Regierung vertreten sei, sagt Deutsch. Zudem wäre es viel glaubwürdiger gewesen, wenn die FPÖ eine Historikerkommission ohne FPÖ-Mandatare nominiert hätte.
„Diese Vorfälle werden zur Normalität.“Oskar Deutsch, IKG-Präsident