Europa vereint sich über Stillleben
In allen europäischen Ländern wurde Obst und Gemüse gemalt, doch kaum so drastisch und streng wie in Spanien.
Wir sehen, was wir glauben zu sehen. Und in der Unerbittlichkeit des spanischen Barocks sehen wir: halbe Zitrone! Zitrone! Kohl! Karotten! Woanders, etwa in den Niederlanden, werden zur gleichen Zeit appetitanregende Fruchtkörbe, luxuriös gedeckte Tafeln und heitere Marktfieranten mit verlockender Frischware gemalt. Doch der Spanier Juan Cotán zeigt Früchte der Erde wie Solitäre – oder sind es gar Gehenkte? Hängen hier einst blühende, sprießende Lebewesen am abgeschnittenen Strunk?
Fast zeitgleich, etwa ab 1600, hat das Genre des Stilllebens viele europäische Maler zu lange nachgeahmten, doch selten erreichten Höchstleistungen animiert – sei es in den Niederlanden, in Deutschland oder Italien. Wandelt man nun durch das Palais de Bozar in Brüssel kann man auch ohne Kenntnis des Titels der ab heute, Freitag, zugänglichen Ausstellung erkennen: fast alles spanisch. Denn so rigoros, so asketisch, so streng und oft auch mit so drastischer Frömmigkeit wurden solche Bilder nur in Spanien gemalt.
Selten sind – seit zuletzt in der Ausstellung 1999 im Museo de Bellas Artes de Bilbao – spanische Stillleben in solcher Dichte und Qualität zu sehen, wie jetzt in der EUHauptstadt und danach im Palazzo Reale in Turin. Das Bozar trumpft mit Künstlern wie Leihgebern auf: Cotán, Velázquez, Goya, Zurbarán, Picasso, Miró und Dalí sowie National Gallery London, Fitzwilliam Museum Cambridge, Louvre und Centre Pompidou Paris, Florentiner Uffizien, Museo Nacional de Arte Antiga Lisboa, MoMA New York oder San Diego Museum of Art.
Weil offenbar die europäische Komponente von Kulturpolitik im Vordergrund steht, melden sich im Katalog die Außen- und Europaminister Belgiens und Spaniens zu Wort. Ohne die Künstler aus dem heutigen Belgien und den Niederlanden wäre das spanische Stillleben – dort „bodegón“genannt – nicht möglich gewesen, stellt der Belgier Didier Reynders fest. Zudem zeige das „bodegón“, wie die Besonderheit aus der Vielfalt entstehe und wie die europäische Kultur ihre Wurzeln tief in eine reiche, gemeinsame Vergangenheit tauche.
Gegenstände haben Menschen seit je gezeichnet und gemalt, doch erst im Goldenen Zeitalter sollte daraus – wie Porträt, Landschaft oder Stadtansicht – ein eigenes Genre werden. Juan Cotán hat als einer der ersten Spanier dieses Bildkonzept formuliert oder gar „eingeweiht“, wie es der Kunsthistoriker Ángel Aterido bezeichnet, der die Brüsseler Schau kuratiert hat.
Juan Cotán entreißt jede Frucht dem Zusammenhang von Markt oder Küche und gibt jeder sogar so etwas wie eine Integrität. Das Fenster ist mehr ein strenger Rahmen, als dass es einen Ort erkennen ließe. Streng, fast geometrisch ist die Anordnung. Streng schwarz ist der Hintergrund. So wird der reine, konzentrierte Gegenstand gezeigt. Und doch, es ist kein blankes Ding.
Denn höchst prägnant zeigen die barocken Stilllebenmaler das, woran noch Leben haftet – sei es, dass von Menschenhand soeben hingelegt oder dass die geerntete, tote Frucht nun Nahrung und somit Lebensspender wird.
Dieser Grenzraum zwischen Tod und Leben wird oft theologisch aufgeladen, doch nirgends mit so exzessiver, mystischer Religiosität wie in Spanien. Antonio de Pereda lässt neben dem Tisch voller Vanitas-Symbole gar einen Engel auftreten. Francisco de Zurbarán stellt die Schale mit glasklarem Wasser und je einer rosa und roten Rose sowie einer weißen Lilie neben die schlafende, träumende und rotwangige künftige Muttergottes.
300 Jahre nach Juan Cotán wird wieder ein Spanier maßgeblich malen: Pablo Picasso. Dessen Stillleben seien für die Avantgarde des 20. Jahrhunderts paradigmatisch, erläutert die spanische Kunsthistorikerin Maite Méndez Baiges im Katalog. Übrigens bietet diese Ausstellung auch einige Stillleben des 20. Jahrhunderts – wie von Fernando Zóbel und Miquel Barceló.
Während im Barock frische, exquisite Früchte ins Bild kommen, malt Picasso zwei Birnen und zwei Äpfel, deren Frischegrad nicht erkennbar ist. Nicht mehr das Elitäre, Luxuriöse und Dekorative wird die Künstler im 20. Jahrhundert interessieren, sondern das Unakademische und das Alltägliche – sei es billig, unbedeutend, inferior.
Die spanischen Barockmaler wie Juan Cotán treiben den Realismus so zur Perfektion, dass Zitrone, Kohl und Karotten so unanfechtbar sind wie Rufzeichen und wie der barocke Glaubens- und Wahrheitsanspruch. Hingegen weiß man bei Picasso nicht recht: Ist das Schimäre? Das Erkennen mäandert zwischen Birne und gefärbelter Leinwand. Der Grenzraum zwischen Wirklichkeit und Fiktion wird abgetastet. Nicht mehr apodiktische Wahrheit wird vermittelt, sondern bestenfalls eine Idee, vor allem aber die Frage: Was wollen wir sehen? Was wollen wir glauben zu sehen?
„Europäische Kultur taucht ihre Wurzeln tief in die Vergangenheit.“
Ausstellung: