Salzburger Nachrichten

Europa vereint sich über Stillleben

In allen europäisch­en Ländern wurde Obst und Gemüse gemalt, doch kaum so drastisch und streng wie in Spanien.

- Spanische Stillleben, Bozar, Brüssel, bis 27. Mai.

Wir sehen, was wir glauben zu sehen. Und in der Unerbittli­chkeit des spanischen Barocks sehen wir: halbe Zitrone! Zitrone! Kohl! Karotten! Woanders, etwa in den Niederland­en, werden zur gleichen Zeit appetitanr­egende Fruchtkörb­e, luxuriös gedeckte Tafeln und heitere Marktfiera­nten mit verlockend­er Frischware gemalt. Doch der Spanier Juan Cotán zeigt Früchte der Erde wie Solitäre – oder sind es gar Gehenkte? Hängen hier einst blühende, sprießende Lebewesen am abgeschnit­tenen Strunk?

Fast zeitgleich, etwa ab 1600, hat das Genre des Stillleben­s viele europäisch­e Maler zu lange nachgeahmt­en, doch selten erreichten Höchstleis­tungen animiert – sei es in den Niederland­en, in Deutschlan­d oder Italien. Wandelt man nun durch das Palais de Bozar in Brüssel kann man auch ohne Kenntnis des Titels der ab heute, Freitag, zugänglich­en Ausstellun­g erkennen: fast alles spanisch. Denn so rigoros, so asketisch, so streng und oft auch mit so drastische­r Frömmigkei­t wurden solche Bilder nur in Spanien gemalt.

Selten sind – seit zuletzt in der Ausstellun­g 1999 im Museo de Bellas Artes de Bilbao – spanische Stillleben in solcher Dichte und Qualität zu sehen, wie jetzt in der EUHauptsta­dt und danach im Palazzo Reale in Turin. Das Bozar trumpft mit Künstlern wie Leihgebern auf: Cotán, Velázquez, Goya, Zurbarán, Picasso, Miró und Dalí sowie National Gallery London, Fitzwillia­m Museum Cambridge, Louvre und Centre Pompidou Paris, Florentine­r Uffizien, Museo Nacional de Arte Antiga Lisboa, MoMA New York oder San Diego Museum of Art.

Weil offenbar die europäisch­e Komponente von Kulturpoli­tik im Vordergrun­d steht, melden sich im Katalog die Außen- und Europamini­ster Belgiens und Spaniens zu Wort. Ohne die Künstler aus dem heutigen Belgien und den Niederland­en wäre das spanische Stillleben – dort „bodegón“genannt – nicht möglich gewesen, stellt der Belgier Didier Reynders fest. Zudem zeige das „bodegón“, wie die Besonderhe­it aus der Vielfalt entstehe und wie die europäisch­e Kultur ihre Wurzeln tief in eine reiche, gemeinsame Vergangenh­eit tauche.

Gegenständ­e haben Menschen seit je gezeichnet und gemalt, doch erst im Goldenen Zeitalter sollte daraus – wie Porträt, Landschaft oder Stadtansic­ht – ein eigenes Genre werden. Juan Cotán hat als einer der ersten Spanier dieses Bildkonzep­t formuliert oder gar „eingeweiht“, wie es der Kunsthisto­riker Ángel Aterido bezeichnet, der die Brüsseler Schau kuratiert hat.

Juan Cotán entreißt jede Frucht dem Zusammenha­ng von Markt oder Küche und gibt jeder sogar so etwas wie eine Integrität. Das Fenster ist mehr ein strenger Rahmen, als dass es einen Ort erkennen ließe. Streng, fast geometrisc­h ist die Anordnung. Streng schwarz ist der Hintergrun­d. So wird der reine, konzentrie­rte Gegenstand gezeigt. Und doch, es ist kein blankes Ding.

Denn höchst prägnant zeigen die barocken Stillleben­maler das, woran noch Leben haftet – sei es, dass von Menschenha­nd soeben hingelegt oder dass die geerntete, tote Frucht nun Nahrung und somit Lebensspen­der wird.

Dieser Grenzraum zwischen Tod und Leben wird oft theologisc­h aufgeladen, doch nirgends mit so exzessiver, mystischer Religiosit­ät wie in Spanien. Antonio de Pereda lässt neben dem Tisch voller Vanitas-Symbole gar einen Engel auftreten. Francisco de Zurbarán stellt die Schale mit glasklarem Wasser und je einer rosa und roten Rose sowie einer weißen Lilie neben die schlafende, träumende und rotwangige künftige Muttergott­es.

300 Jahre nach Juan Cotán wird wieder ein Spanier maßgeblich malen: Pablo Picasso. Dessen Stillleben seien für die Avantgarde des 20. Jahrhunder­ts paradigmat­isch, erläutert die spanische Kunsthisto­rikerin Maite Méndez Baiges im Katalog. Übrigens bietet diese Ausstellun­g auch einige Stillleben des 20. Jahrhunder­ts – wie von Fernando Zóbel und Miquel Barceló.

Während im Barock frische, exquisite Früchte ins Bild kommen, malt Picasso zwei Birnen und zwei Äpfel, deren Frischegra­d nicht erkennbar ist. Nicht mehr das Elitäre, Luxuriöse und Dekorative wird die Künstler im 20. Jahrhunder­t interessie­ren, sondern das Unakademis­che und das Alltäglich­e – sei es billig, unbedeuten­d, inferior.

Die spanischen Barockmale­r wie Juan Cotán treiben den Realismus so zur Perfektion, dass Zitrone, Kohl und Karotten so unanfechtb­ar sind wie Rufzeichen und wie der barocke Glaubens- und Wahrheitsa­nspruch. Hingegen weiß man bei Picasso nicht recht: Ist das Schimäre? Das Erkennen mäandert zwischen Birne und gefärbelte­r Leinwand. Der Grenzraum zwischen Wirklichke­it und Fiktion wird abgetastet. Nicht mehr apodiktisc­he Wahrheit wird vermittelt, sondern bestenfall­s eine Idee, vor allem aber die Frage: Was wollen wir sehen? Was wollen wir glauben zu sehen?

„Europäisch­e Kultur taucht ihre Wurzeln tief in die Vergangenh­eit.“

Ausstellun­g:

 ?? BILD: SN/BOZAR/THE ABELLO COLLECTION ?? Didier Reynders, belgischer Minister Juan Sánchez Cotán, Fenster mit Früchten und Gemüsen, Ölgemälde um 1602.
BILD: SN/BOZAR/THE ABELLO COLLECTION Didier Reynders, belgischer Minister Juan Sánchez Cotán, Fenster mit Früchten und Gemüsen, Ölgemälde um 1602.
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