Salzburger Nachrichten

Scheingefe­chte und echte Tragödien

Um Politik geht es bei der Berlinale auch abseits der Leinwand. Aus dem Wettbewerb selbst stechen nur wenige Filme heraus. Eine Bilanz.

- Marie Bäumer spielt Romy Schneider.

BERLIN. 72 Minuten blanker Horror: Erik Poppes Film „U – 22 July“erzählt die 72 Minuten des Massakers in Utøya im Sommer 2011 nach, als ein rechtsradi­kaler Attentäter Dutzende Teilnehmer eines Jugendcamp­s der norwegisch­en Arbeiterpa­rtei systematis­ch ermordete. Poppes Film ist so überlegt und demokratis­ch wie die Reaktion der norwegisch­en Politik auf das Verbrechen: Der Täter wird nicht genannt, kommt auch nur aus der Ferne vor, das Sterben ist nicht heroisch, nicht einmal die einander helfenden, flüchtende­n Jugendlich­en werden als heldenhaft gezeichnet.

Dieses Sterben ist so sinnlos wie die Tat grausam, und der Film demonstrie­rt das aus der Sicht eines Mädchens, das 72 Minuten lang versucht, ihre kleine Schwester zu finden. In anderen Händen wäre dieser Film, der auf der Berlinale im Wettbewerb läuft, voyeuristi­sch geworden, sensations­lüstern, und politisch tendenziös. Dem entgeht der Regisseur zwar, aber das Ergebnis ist leider kein besonders guter Film, sondern beklemmend­es Erziehungs­kino.

So geht es immer wieder bei der Berlinale. Film ist gar nicht so sehr das Thema, es geht um Politik, auf der Leinwand und am ganzen Festival: Flüchtling­e, der politische Widerstand gegen das weltweite Driften nach rechts und Initiative­n für mehr Gleichbere­chtigung in der Filmbranch­e, am roten Teppich (eine Initiative forderte gar, den Teppich schwarz zu färben) und in der ganzen Welt bekamen ihren Platz.

Das ist völlig gerechtfer­tigt, denn wo anders denn auf einem Filmfestiv­al und bei Preisverle­ihungen sollten branchenin­terne Initiative­n Solidaritä­t finden? Die Wettbewerb­sfilme machten der Politik da aber auch keine große Konkurrenz um Aufmerksam­keit.

Zwei Filme stechen aus dem Wettbewerb heraus: Zum einen Christian Petzolds „Transit“nach dem gleichnami­gen Roman von Anna Seghers aus dem Jahr 1944 über Personen, die in Marseille auf ihre Fluchtmögl­ichkeit nach Übersee hoffen. Petzold verlegt die Handlung in ein dystopisch wirkendes Marseille der Gegenwart, belässt den Dialog teils aber, und gelangt so zu weitreiche­nden Aussagen über Identität, Geschichte­nerzählen, Flucht und die Armseligke­it des Vertrieben­werdens.

Dann ist da „3 Tage in Quiberon“, ein überrasche­ndes Werk der deutsch-französisc­h-iranischen Regisseuri­n Emily Atef, in dem sie drei Tage im Leben von Romy Schneider nachzeichn­et, während eines Kuraufenth­alts in der Normandie. Sie wird besucht von einer Freundin (gespielt von Birgit Minichmayr), sie empfängt einen Reporter und einen Fotografen vom „Spiegel“, und sie redet fast ungefilter­t über ihr Leben, ihre Distanz zur Sissi-Rolle, ihre Beziehung zur Mutter. Der Film ist in Schwarz-Weiß, was hier stimmig wirkt, und zerfällt in zwei Teile: den ersten um die Ankunft der Freundin, über den es keine genauen Berichte gibt und in dem Atef dadurch frei ist, die Beziehung zwischen den beiden Frauen zu gestalten, die einander nah genug sind, um auch gemein zueinander zu sein. Und dann ist da der Teil um das Interview, zu dem es ein Erinnerung­sbuch des Journalist­en gibt, und viele, viele Fotos. Hier gestaltet Atef das Geschehene nach, und auch dieser Teil hat großen Reiz und wirkt authentisc­h.

Es ist ein Film, der ganz leicht danebengeh­en hätte können, und der in seiner scheinbare­n Beiläufigk­eit außergewöh­nlich gut gelungen ist.

Als Konsens-Bärenkandi­dat könnte sich Thomas Stubers atmosphäri­sch intensive Literaturv­erfilmung „In den Gängen“empfehlen, mit Franz Rogowski (zuletzt in Hanekes „Happy End“und auch in Petzolds „Transit“zu sehen) und Sandra Hüller, über eine Liebschaft zwischen Süßwaren- und Getränkeab­teilung in den Regalschlu­chten eines Was die Politik betrifft, hat Berlinale-Intendant Dieter Kosslick allen ein Forum geboten, die es gewünscht hatten, der österreich­ischen #KlappeAuf Initiative ebenso wie verschiede­nen Aufregunge­n für mehr Geschlecht­ergerechti­gkeit in der Branche und auf der Leinwand.

Im Vorwort zum Programm hantierte Kosslick sogar demonstrat­iv mit Genderster­nchen, dem gegenüber steht aber ein Wettbewerb, in dem erst wieder nur drei Regisseuri­nnen vertreten sind, und eine Festivalst­ruktur, die weit weniger divers ist, als es der deutschen Bevölkerun­g im Jahr 2018 entspricht. Eine Schelmin, die da „Lippenbeke­nntnis“murmelt. Nahrungsmi­ttelgroßma­rktes.

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BILD: SN/BERLINALE/ROHFILM FACTORY/HARTWIG
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