Salzburger Nachrichten

Arbeitslos­e am Beispiel von Marienthal

- hkk

In den 1930er-Jahren gab es eine Steigerung­sstufe von „arbeitslos“, nämlich „ausgesteue­rt“. Ausgesteue­rte waren schon so lang arbeitslos, dass sie keine staatliche Unterstütz­ung mehr bekamen. Im Februar 1933 sollte die Arbeitslos­igkeit in Österreich ihren bisherigen Höchststan­d erreichen: rund 600.000. Etwa ein Drittel davon waren Ausgesteue­rte.

1923 war die Arbeitslos­enzahl mit 120.000 erstmals in der Ersten Republik sechsstell­ig, seither nahm sie zu. In Anbetracht heutiger Verhältnis­se – die Statistik Austria gibt für 2016 durchschni­ttlich 357.300 Arbeitslos­e an – erscheinen 600.000 nicht horrend. Doch 1933 war die Bevölkerun­g Österreich­s um etwa ein Viertel kleiner als heute; es waren kaum Frauen berufstäti­g und die Realeinkom­men erreichten Bruchteile von heute.

Mit den Konsequenz­en von Arbeitslos­igkeit befassten sich 1933 die drei junge Wissenscha­fter Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel. Sie sollten mit ihrer Studie über die „Arbeitslos­en von Marienthal“der empirische­n Soziologie die Bahn brechen. Ihr Anliegen sei es, mit Befragung, Datensamml­ung und Analyse „ein Bild von der psychologi­schen Situation eines arbeitslos­en Ortes zu geben“und die Lücke zwischen nackten Zahlen und journalist­ischen Reportage zu schließen, wie sie in der Studie schildern.

Die Textilfabr­ik in Marienthal bei Gramatneus­iedl war 1930 geschlosse­n worden. 1933 lebten dort fast 1500 Menschen, davon rund 300 Kinder. Auf den Speisezett­eln finden sich trockenes Brot, Erbswursts­uppe, Kohl, Erdäpfel, Maggisuppe, Krautfleck­erl, Linsen und Bohnen, vereinzelt Pferdeflei­sch, Schmalzbro­t und Mohnnudeln. Beispielsw­eise bekam eine siebenköpf­ige Familie für zwei Wochen 49 Schilling Unterstütz­ung. Damit wurde ausschließ­lich Essen und Brennstoff gekauft – größte Ausgaben waren 10,64 Schilling für 28 Liter Milch, 8 Schilling für 12 kg Brot und 7,20 Schilling für 3 kg Schweinefe­tt.

Die Studie zeichnet ein Bild der Depression: Die Menschen hören auf zu lesen, sie verlassen Parteien und Gesangsver­ein. Vor allem Männer gehen langsamer und tun stundenlan­g nichts. Viele flicken ihr weniges Habe. Doch niemand ergreift eine Initiative über den eigenen Gemüsegart­en hinaus. Ein Ort versinkt in graues, düsteres Abwarten.

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