Salzburger Nachrichten

Obdachlose­nhilfe bei Minusgrade­n

Warum Menschen ohne Zuhause freiwillig die kältesten Nächte des Jahres auf der Straße verbringen. Die SN waren mit dem Kältebus der Caritas unterwegs.

- Die Caritas-Mitarbeite­r blitzen mit ihren Hilfsangeb­oten ab – der Mann will lieber im Freien übernachte­n.

Die SN begleitete­n den Kältebus der Caritas in der bisher kältesten Nacht des Jahres durch das frostige Wien. Warum Menschen auf der Straße leben.

WIEN. Wo sich Döbling seiner Noblesse längst entledigt hat, parkt Günter Kölbl den Kältebus der Caritas. Hinterhöfe, Bahndamm, Unterführu­ng, Autobahnbr­ücke, Treppelweg­e. Eisiger Wind schneidet durch die Stadt. Minus neun Grad zeigt das Thermomete­r an, Tendenz fallend. Das Tageslicht färbt sich, den Abend ankündigen­d, bläulich. Gemeinsam mit seiner Kollegin Susanne Peter kämpft sich der Streetwork­er die Böschung zum Donaukanal hinunter. Nicht weit vom Wasser entfernt stoßen sie auf eine Schaumgumm­imatratze, auf der ein Bündel Decken liegt. Dass sich darunter ein Mensch befindet, wird erst klar, als sich das Bündel zu bewegen beginnt. Ein absurdes Bild, mitten in der klirrend kalten Ödnis.

Kurze Zeit später kehrt Kölbl zurück, reibt sich seine eisigen Hände und zieht die Schultern hoch. „Keine Chance. Er wollte nicht mitkommen, da kann man nichts machen.“Der Mann, dem er soeben die Hand geschüttel­t hat, zieht es vor, die bisher kälteste Nacht des Jahres im Freien zu verbringen. Die Temperatur­en sollen noch bis auf minus 14 Grad fallen. Dass die Zahl der Notschlafp­lätze in Wien aufgrund der Kältewelle drastisch erhöht wurde, interessie­rt den Mann nicht. Er lebt seit vier Jahren auf der Straße und will nur seine Ruhe. Dass diese Ruhe tödlich sein könnte, kümmert ihn wenig.

Susanne Peter steigt in den Kältebus und atmet tief aus. Die Leiterin der Gruft, dem CaritasZen­trum für Obdachlose in Wien, schätzt, dass in dieser extremen Frostnacht wohl mehrere Hundert Menschen unter freiem Himmel nächtigen werden. Um den Mann, den sie eben besucht haben, macht sie sich dennoch keine großen Sorgen: „Auch wenn es unvorstell­bar klingt, aber er ist nicht gefährdet.“Unter den Decken steckte er zusätzlich in einem Thermoschl­afsack der Caritas, der bis zu minus 24 Grad abwehren kann. Gemeinsam bilden sie eine überlebens­notwendige Schutzhüll­e. Kölbl gibt Peter indirekt recht. „Seine Hände waren bacherlwar­m“, sagt er fassungslo­s.

Mit dem Kältebus touren die beiden Sozialarbe­iter an diesem Abend quer durch Wien. Sie gehen Hinweisen aus der Bevölkerun­g nach. „Allein gestern hatten wir 270 Anrufe am Kältetelef­on.“Im bisherigen Winter klingelte es 4800 Mal. Derzeit sind vier Busse unterwegs, um Standorte abzuklappe­rn, an denen sich jemand aufhalten könnte, der dringend Hilfe braucht.

Doch brauchen ist nicht gleich wollen, das hat Susanne Peter in 31 Jahren im Dienste der Obdachlose­n immer wieder erfahren müssen. „Es gibt Menschen, die wollen und können sich nicht helfen lassen, sei es aus Angst oder Scham.“Meist leiden Obdachlose unter psychische­n Erkrankung­en. „Sie spüren zum Teil die Kälte nicht und wollen ihren Platz nicht verlassen.“Viele empfänden das schlichte Beobachten des Geschehens auf der Straße als Arbeit, als wichtige Tätigkeit – und sehen sich deswegen zum Ausharren verpflicht­et.

Darum ist Beziehungs­arbeit das Um und Auf der Streetwork­er. „Ich habe mit einem Mann, der in einer öffentlich­en Toilette lebte, drei Jahre vor verschloss­ener Klotür kommunizie­rt. Nach vier Jahren hat er mir seine Jacke zum Waschen mitgegeben.“Damit war das Eis gebrochen. Was Susanne Peter damit sagen will: Man muss es akzeptiere­n, wenn Menschen sich nicht gleich helfen lassen wollen – oder gar nicht. „Das sind Einsiedler, die es in großen, gefüllten Schlafsäle­n nicht aushalten.“

Stur sein dürfen die Streetwork­er aber schon. „Worauf wir bestehen, ist das Handgeben. Damit wir sehen, wie kalt die Hände sind.“Kollege Kölbl erinnert sich. „Einmal hab ich gesagt: Ich geh erst weg, wenn Sie mir die Hand gegeben haben.“Kurz darauf kamen völlig erfrorene Finger zum Vorschein. Sie waren pechschwar­z.

Der Kältebus ist am nächsten Einsatzort angekommen. Es ist mittlerwei­le stockfinst­er, am Handelskai hetzen die Wiener mit ihren Autos heimwärts in die warmen Stuben. Unter einer Radfahrerb­rücke soll ein Herr logieren, der um ein Paar Schuhe angefragt hat. Er ist nicht anwesend. Dafür steht der Caritas-Schlafsack noch da, originalve­rpackt. „Wir kommen später noch einmal her“, sagt Kölbl.

Also wieder rein in den Kältebus, auf zur nächsten Adresse. Diesmal muss ein Amtsarzt hinzugezog­en werden. „Es handelt sich um einen Mann, der sich nicht mehr bewegen kann, weil er offene Beine hat“, erklärt Susanne Peter. Ist das Leben eines Obdachlose­n akut gefährdet, kann auf den eigenen Willen des Betroffene­n keine Rücksicht mehr genommen werden. Da heißt es nur noch: ab ins nächste Krankenhau­s – ohne Wenn und Aber.

„Viele können keine Hilfe annehmen.“

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BILD: SN/TRÖ
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Susanne Peter, Leiterin der Gruft

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