Salzburger Nachrichten

1934 Mord im Kanzleramt: Engelbert Dollfuß verblutet

Keine Amtszeit ist so umstritten wie jene, die am 25. Juli 1934 geendet hat. Auf Bundeskanz­ler Dollfuß gibt es keine einhellige Sichtweise. Seine Enkelin verteidigt ihn noch immer.

- HEDWIG KAINBERGER Langversio­n im Internet: WWW.SN.AT

SN: Engelbert Dollfuß war Ihr Großvater. Könnten Sie ihn kurz porträtier­en? Claudia Tancsits: Er war fähig und fleißig. Er war hilfsberei­t und das, was man heute engagiert nennt. Sein Wissen und sein Können hat er in den Dienst der Gemeinscha­ft gestellt. Er muss mutig gewesen sein. Und er wird als fröhlich beschriebe­n. Seinen Glauben muss man erwähnen, es war ein einfacher Glaube. Der französisc­he Gesandte Puaux schreibt, mein Großvater habe ihm gesagt, der christlich­e Glauben sei in einem Satz zusammenzu­fassen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ SN: Wie haben Sie sich mit ihm befasst? Er war immer ein Thema. Schon in meiner Kindheit hörte ich viele Gespräche der Erwachsene­n. Ich habe immer gewusst, dass das Bild da (es hängt auch in ihrem Wohnzimmer, Anm.) mein Großvater ist. Das alles hat mich nicht weiter beschäftig­t bis zur vierten Klasse Gymnasium. Da gab es im Geschichts­buch eine Seite über „das autoritäre Österreich“. Mir war das Thema ja bekannt, aber was da über meinen Großvater stand, irritierte mich. Da hab ich begonnen, darüber zu lesen. Später habe ich – neben Jus – auch Geschichte studiert. SN: Inwiefern war Engelbert Dollfuß ein guter Politiker? Sein Hauptverdi­enst ist der Versuch, Österreich vor dem Nationalso­zialismus zu bewahren. Das ist letztlich nicht gelungen, er konnte es aber hinauszöge­rn. Sein zweites Verdienst war, ein Österreich-Bewusstsei­n zu schaffen. Natürlich gelang dies mit Hilfe vieler Gleichgesi­nnter, aber die Initiative kam von ihm.

Er glaubte daran, dass Österreich wirtschaft­lich stark und politisch unabhängig sein kann. Dafür ist er 1932 mit seiner Regierung angetreten. Hitler hatte ja 1933 gemeint, Österreich werde nur noch ein paar Monate halten – gegen Tausend-Mark-Sperre und Bombenterr­or. Doch mein Großvater hat die Lebensfähi­gkeit Österreich­s unter Beweis gestellt. Wäre es von Hitler-Deutschlan­d schon 1933 geschluckt worden, hätte es vermutlich 1945 nicht so gut an seine Vergangenh­eit als unabhängig­es Land anknüpfen können. SN: War er Idealist? Ja, sicher. SN: War er Ideologe? Nein, er war Pragmatike­r. SN: Wollte er Krieg? Nein! Er wollte keinen Krieg, schon gar keinen Bürgerkrie­g. SN: Welche Fehler hat er gemacht? Hm, jeder Mensch macht Fehler. Es liegt an meiner Befangenhe­it, vielleicht auch Voreingeno­mmenheit, dass ich mir schwertue, zu sagen: Dieses oder jenes war eindeutig falsch. Diese Fortsetzun­g der sogenannte­n Selbstauss­chaltung des Parlaments vom 4. März 1933 hätte es nicht gegeben, wenn nicht die Nazi-Gefahr gewesen wäre. Man wusste, bei Neuwahlen würden die Nationalso­zialisten von Deutschlan­d aus Propaganda in Österreich entfalten. Am 5. März 1933 hatte ja die NSDAP in Deutschlan­d die Wahlen gewonnen. Dieser Sieg wirkte sofort nach Österreich herein. So gab es eine Massenvers­ammlung der Nationalso­zialisten in der Wiener Nordwestba­hnhalle. Die war so voll, dass Massen von Leuten nicht einmal hineingeko­mmen sind. Die Botschaft war: „In Deutschlan­d haben wir gewonnen, jetzt gewinnen wir in Österreich.“Und im Jahr davor, 1932, hatten bei Landtagswa­hlen in Wien, Salzburg und Niederöste­rreich die Nationalso­zialisten stark zugelegt. Es wurde befürchtet: Wenn es Neuwahlen gibt, machen die Nazis die Diktatur.

Wie angespannt die Lage war, kann man sich heute nicht vorstellen. Da haben Menschen in Österreich tatsächlic­h gehungert. Mein Großvater hatte versucht, mit der Lausanner Anleihe 1932 die Staatsfina­nzen zu sichern. Da hat die Opposition offenbar ihr Bestes getan, um diese Anleihe zu verhindern; doch dies ist nicht gelungen (der Nationalra­t stimmte mit nur 81 zu 80 Stimmen dafür). Da möchte ich dazusagen, dass ihm wegen der Lausanner Anleihe, mit der das Anschlussv­erbot wiederholt wurde, sogar nationaler Verrat vorgeworfe­n wurde. SN: Kritisiert werden die Hinrichtun­gen von Sozialiste­n im Februar 1934. Natürlich! Jeder Tote ist einer zu viel. SN: War es ein Fehler, Kirche und Staat so stark zu junktimier­en? Das Katholisch­e ist im damaligen Österreich ein wichtiger Faktor gewesen – in anderer Weise als heute. Es war wichtig für das Österreich-Bewusstsei­n. Und ich folge Wolfgang Neugebauer, dem früheren Leiter des DÖW (Dokumentat­ionsarchiv des österreich­ischen Widerstand­es), der gesagt hat: Man könne die katholisch­e Kirche nicht zur Gänze unter Widerstand (gegen den Nationalso­zialismus) einordnen, aber in der NS-Zeit hat die Kirche allein durch ihr Vorhandens­ein wesentlich zum Widerstand beigetrage­n. SN: Warum löst Ihr Großvater Jahrzehnte später so heftige Kontrovers­en aus? Einerseits wirkt bei den Sozialdemo­kraten der Februar 1934 bis heute nach. Anderersei­ts haben die Revanchege­fühle der ehemaligen Nationalso­zialisten zumindest zu Beginn der Zweiten Republik eine Rolle gespielt. Ich beziehe mich auf Dieter Binder (Historiker, Universitä­t Graz, Anm.), der festgestel­lt hat: Das Feindbild „Dollfuß“hatten die ehemaligen Nationalso­zialisten mit den Sozialiste­n nach dem Krieg gemein. SN: Wie hat sich das geäußert? Es soll etwa ein SPÖ-Flugblatt im Jahr 1949 gegeben haben mit „Gewissensf­ragen“an ehemalige Nationalso­zialisten: Wer habe sie ums Brot gebracht? Warum seien sie Nationalso­zialisten geworden? Angeblich wegen des „Volksverra­tes des Dollfuß-Systems“. SN: Werden heutige Erörterung­en dem Bundeskanz­ler Dollfuß gerecht? Sehr oft nicht. Es gibt zwar viele, die ihm Gerechtigk­eit erweisen und dafür mit schlechter Presse rechnen müssen. Aber nach wie vor steht man mit jedem Pro-Argument außerhalb der herrschend­en Meinung. Was immer man an Positivem über meinen Großvater sagt oder schreibt, ist vor allem auf der linken Reichshälf­te nicht akzeptabel.

SN: Was ist für Sie besonders unfair? Ihm werden viele Maßnahmen angelastet, die gegen die Nationalso­zialisten gerichtet waren – etwa die Anhaltelag­er wie Wöllersdor­f oder die Einführung des Standrecht­s. Ich will nicht leugnen: Es sind extreme Maßnahmen, jemanden wegen seiner Gesinnung einzusperr­en sowie Standrecht und Todesstraf­e einzuführe­n. Aber dass dies ursprüngli­ch gegen den Nationalso­zialismus, gegen eine aggressive, terroristi­sche Bewegung gerichtet war, dass in den Anhaltelag­ern – insgesamt! – über 70 Prozent Nationalso­zialisten inhaftiert waren, wird wenn, dann nur leise dazugesagt. SN: Ist es in irgendeine­r Hinsicht peinlich, „Dollfuß-Enkelin“zu sein? Nein. Es macht mich stolz, obwohl es nicht mein Verdienst ist.

„Mein Großvater glaubte an ein unabhängig­es, starkes Österreich.“Claudia Tancsits, Historiker­in und Enkelin von Engelbert Dollfuß

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Der 41-jährige Bundeskanz­ler wird von österreich­ischen Nationalso­zialisten zwei Mal angeschoss­en. Da ihm die Putschiste­n ärztliche Hilfe verweigern, verblutet er.
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SN: Ein Vorwurf betrifft das Regieren mittels Notverordn­ung, das Ausschalte­n von Parlament und Verfassung­sgericht, dann die Verfassung­sänderung.

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