Der Fortschritt schaut oft größer aus, als er ist
Schon Nestroy meinte: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“Folgt man diesem Zitat, stellt sich die Frage, was hinter einem der größten deutschen Börsengänge der vergangenen 20 Jahre steckt: Spaltet die IndustrieIkone Siemens ihre Gesundheitssparte Healthineers ab, weil man im Megamarkt Gesundheit in Zukunft das große Geld machen wird?
Nun muss man nicht so fortschrittsskeptisch sein wie Nestroy, der die Posse „Der Schützling“vor über 170 Jahren in einer grausamen, von Verwerfungen der Industrialisierung geprägten Zeit geschrieben hat. Ein bisschen Goldgräberstimmung herrscht in der Medizin immer, schließlich wächst die Nachfrage nach Hightech-Diagnosegeräten wie MRT-Scannern und Laborsystemen, beides große Stärken von Siemens, seit Jahren beständig. Der Bereich beschert dem Industriekonglomerat üppige Umsatzrenditen von fast 20 Prozent. Davon kann man im Schwestergeschäft, der taumelnden Kraftwerkssparte, nur träumen.
Und doch muss die provokante Frage erlaubt sein, ob man mit den Produkten, die Siemens heute hat, in Zukunft tatsächlich das große Geld verdienen wird: Diagnose, Therapie und Pflege, überall werden Daten und künstliche Intelli- genz künftig für Einsparungen genutzt werden. Wer es schafft, große Datenmengen auf Plattformen zusammenzuführen und die Patienten mit ins Boot zu holen, wird König sein. Wer das versäumt, wird auf den teuren Gerätschaften sitzen bleiben. Nicht umsonst schockt die Allianz der drei US-Giganten Amazon (Handel), J.P. Morgan Chase (Finanzen) und Berkshire Hathaway (Beteiligungsfirma von Warren Buffett) die Branche. Diese planen eine möglichst günstige Mitarbeiter-Krankenversicherung, die nur der Testlauf für ein neues Geschäftsmodell sein könnte: Je mehr Daten die Versicherten freiwillig hergeben, desto niedriger fällt deren Prämie aus. Daten und die Intelligenz, die man daraus schöpfen kann, sind das neue Gold – wie in der Autobranche, wo man nicht mehr mit den Autos selbst, sondern mit dem Verhalten und den Wegstrecken der Autofahrer Geld verdienen wird.
Die radikalste Änderung: Patienten lassen sich nicht mehr kleinhalten. Sie sind informiert (wenngleich nicht immer richtig), selbstund gesundheitsbewusst und bereiten im Extremfall selbst ihre Diagnosen vor, weil ihnen die Ärzte, wie schon heute bei manchen seltenen Erkrankungen der Fall, nicht immer helfen können. Healthineers muss auf die Umbrüche klug und rasch reagieren. Nur davon hängt es ab, ob der Fortschritt dieser Abspaltung die Nestroy’sche Skepsis rechtfertigt oder tatsächlich ein neues Kapitel beginnt.