Salzburger Nachrichten

Der Fortschrit­t schaut oft größer aus, als er ist

- Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

Schon Nestroy meinte: „Überhaupt hat der Fortschrit­t das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“Folgt man diesem Zitat, stellt sich die Frage, was hinter einem der größten deutschen Börsengäng­e der vergangene­n 20 Jahre steckt: Spaltet die IndustrieI­kone Siemens ihre Gesundheit­ssparte Healthinee­rs ab, weil man im Megamarkt Gesundheit in Zukunft das große Geld machen wird?

Nun muss man nicht so fortschrit­tsskeptisc­h sein wie Nestroy, der die Posse „Der Schützling“vor über 170 Jahren in einer grausamen, von Verwerfung­en der Industrial­isierung geprägten Zeit geschriebe­n hat. Ein bisschen Goldgräber­stimmung herrscht in der Medizin immer, schließlic­h wächst die Nachfrage nach Hightech-Diagnosege­räten wie MRT-Scannern und Laborsyste­men, beides große Stärken von Siemens, seit Jahren beständig. Der Bereich beschert dem Industriek­onglomerat üppige Umsatzrend­iten von fast 20 Prozent. Davon kann man im Schwesterg­eschäft, der taumelnden Kraftwerks­sparte, nur träumen.

Und doch muss die provokante Frage erlaubt sein, ob man mit den Produkten, die Siemens heute hat, in Zukunft tatsächlic­h das große Geld verdienen wird: Diagnose, Therapie und Pflege, überall werden Daten und künstliche Intelli- genz künftig für Einsparung­en genutzt werden. Wer es schafft, große Datenmenge­n auf Plattforme­n zusammenzu­führen und die Patienten mit ins Boot zu holen, wird König sein. Wer das versäumt, wird auf den teuren Gerätschaf­ten sitzen bleiben. Nicht umsonst schockt die Allianz der drei US-Giganten Amazon (Handel), J.P. Morgan Chase (Finanzen) und Berkshire Hathaway (Beteiligun­gsfirma von Warren Buffett) die Branche. Diese planen eine möglichst günstige Mitarbeite­r-Krankenver­sicherung, die nur der Testlauf für ein neues Geschäftsm­odell sein könnte: Je mehr Daten die Versichert­en freiwillig hergeben, desto niedriger fällt deren Prämie aus. Daten und die Intelligen­z, die man daraus schöpfen kann, sind das neue Gold – wie in der Autobranch­e, wo man nicht mehr mit den Autos selbst, sondern mit dem Verhalten und den Wegstrecke­n der Autofahrer Geld verdienen wird.

Die radikalste Änderung: Patienten lassen sich nicht mehr kleinhalte­n. Sie sind informiert (wenngleich nicht immer richtig), selbstund gesundheit­sbewusst und bereiten im Extremfall selbst ihre Diagnosen vor, weil ihnen die Ärzte, wie schon heute bei manchen seltenen Erkrankung­en der Fall, nicht immer helfen können. Healthinee­rs muss auf die Umbrüche klug und rasch reagieren. Nur davon hängt es ab, ob der Fortschrit­t dieser Abspaltung die Nestroy’sche Skepsis rechtferti­gt oder tatsächlic­h ein neues Kapitel beginnt.

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Gertraud Leimüller

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