Männer werden entführt und verheiratet Eingesperrt und mit dem Tod bedroht
29-jähriger Inder wurde Opfer von „Bräutigam-Entführung“. Dieses Phänomen ist im Bundesstaat Bihar weitverbreitet.
NICK KAISER PATNA. Es ist Hochzeitssaison in Indien. In Patna, der Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Bihar, ist das nicht zu überhören. Fast jeden Abend fahren Wagen mit aufeinandergestapelten Lautsprechern, aus denen Hindi-Pop-Musik dröhnt, die Straßen auf und ab.
Vinod Kumar hat dabei ein mulmiges Gefühl. Der 29-jährige Ingenieur war am 3. Dezember aus dem benachbarten Bundesstaat Jharkhand hierhergekommen, um die Hochzeit eines Freundes zu besuchen. Noch am selben Abend heiratete er selbst – gegen seinen Willen, wie er sagt. Er wurde Opfer einer Zwangsehe, auch „Bräutigam-Entführung“genannt.
Als sein Vater im Jänner 2017 im Koma gelegen sei, habe sich ihm im Krankenhaus ein Mann namens Surender als Freund des Vaters vorgestellt, erzählt Kumar. Der Kontakt blieb ihm zufolge auch nach dem Tod seines Vaters bestehen. Als Kumar zur Hochzeit seines Freundes nach Patna fuhr, lud ihn Surender auf einen Tee zu sich ein. Dort hätten ihn Surender und mehrere Angehörige gepackt und in ein Zimmer gesperrt. „Ich habe gefragt: ,Was willst du von mir?‘ und er hat gesagt: ,Du musst meine Schwester heiraten‘“, sagt Kumar. Seine Entführer hätten ihn geschlagen und gedroht, ihn umzubringen.
Nach einem Bericht der indischen Nachrichtenagentur IANS war Kumar einer von rund 3400 entführten Bräutigamen im Vorjahr in Bihar – ein armer Bundesstaat mit etwas mehr als 100 Millionen Einwohnern und dem Ruf, gesetzlos zu sein. Die Polizei sagt auf Nachfrage, über „Bräutigam-Entführungen“werde keine Statistik geführt. Dass Männer in Bihar immer wieder entführt und zur Heirat gezwungen werden, ist aber unbestritten.
Am schlimmsten sei es während einer Agrarkrise in den 1980er-Jahren gewesen, erklärt Rupesh, Chef der gemeinnützigen Organisation Koshish in Bihar. Die Söhne von Bauern hätten damals zu studieren begonnen. So stieg ihr Wert als Ehemänner, und viele Familien konnten sich die zwar seit 1961 in Indien verbotene, aber dennoch gängige Zahlung einer Mitgift nicht mehr leisten. Einige Eltern in Bihar ergriffen dann drastische Maßnahmen, um ihren Töchtern gut situierte Ehemänner zu verschaffen: Sie ent- führten die Auserwählten und zwangen sie zur Heirat.
Im Internet kursiert ein Video, das Vinod Kumar zeigt, wie er weinend die Riten einer HinduHochzeit über sich ergehen lässt. Auch die Braut sieht unglücklich aus. Er habe kein Wort mit ihr gewechselt, sagt Kumar. „Wenn man mich gezwungen hätte, einen Büffel zu heiraten, wäre es dasselbe gewesen.“
Am nächsten Morgen musste er seinen Bruder anrufen und ihm sagen, er habe geheiratet – und zwar freiwillig. Der Bruder alarmierte die Polizei. Doch die Beamten redeten auf Kumar ein, er müsse die Ehe akzeptieren. Sonst widerfahre ihm Böses. Dass ihn die Polizei dann doch noch befreite, hat Kumar seiner Darstellung nach seinen Angehörigen und Freunden zu verdanken, die in sozialen Medien auf den Fall aufmerksam machten und dafür sorgten, dass das Fernsehen berichtete.
Nun ist Kumar wieder in Patna, um bei der staatlichen Menschenrechtskommission von Bihar vorzusprechen. „Ich will, dass die Ehe für ungültig erklärt wird und die Leute, die das gemacht haben, bestraft werden“, sagt er.