Salzburger Nachrichten

Erdo˘gan ist zu allem bereit

Die Türkei hat mit ihrer Offensive gegen Kurden in Syrien neue Fronten aufgemacht. Der Versuch, das strategisc­he Wirrwarr zu entflechte­n.

- Bei einer Rede holt Erdoğan ein weinendes Mädchen auf die Bühne und erklärt ihm, dass Soldaten nicht weinen.

Es läuft nicht wie geplant für die Türkei in Syrien. Das zeigt sich auch daran, dass die Kriegsrhet­orik in Ankara immer schriller wird. Wie wenig Skrupel Recep Tayyip Erdoğan beim Werben für den Kriegseins­atz gegen die Kurden in Afrin hat, zeigte sich am vergangene­n Wochenende bei einer AKP-Wahlkampfv­eranstaltu­ng. Der Präsident holte ein weinendes Mädchen in Militäruni­form auf die Bühne. „Aber Soldaten weinen doch nicht“, sagte er dem Mädchen. Dann wandte er sich an das Publikum: „Wenn sie als Märtyrer fällt, wird man sie – so Gott will – mit der Fahne zudecken. Es ist alles bereit.“ SN: Herr Schmidinge­r, Sie waren in den vergangene­n Jahren einer der wenigen europäisch­en Besucher in der Region Afrin. Wann waren Sie zum letzten Mal da? Thomas Schmidinge­r: Ich war 2015 zum letzten Mal in Afrin. Meine aktuellen Informatio­nen stammen aus zweiter Hand von Leuten, zu denen ich dort noch Kontakt habe. SN: Was hören Sie im Moment von Ihren Kontakten? Die Dörfer, die von der türkischen Armee eingenomme­n worden sind, sind komplett entvölkert. Die meisten Bewohner sind in die Stadt geflüchtet. Es versuchen auch Leute in Richtung Aleppo wegzukomme­n, das ja unter Kontrolle des syrischen Regimes ist. Allerdings geht das nur mit Schleppern und kostet mittlerwei­le pro Person weit über 1000 Euro. Gleichzeit­ig ist man willens, sich gegen die türkische Armee und ihre Verbündete­n zu verteidige­n – und bekommt das militärisc­h auch überrasche­nd gut hin. Erdoğan hat vor dem Angriff angekündig­t, in einem halben Tag in Afrin zu sein. Mittlerwei­le kämpft die Türkei über einen Monat und hat nur zwischen fünf und acht Kilometer ins Land reingescha­fft. SN: Die Türkei vermeldet, sie habe 2000 Terroriste­n neutralisi­ert. Erstens: Stimmt das? Und zweitens: Was heißt neutralisi­ert? Genau das wäre die Frage. Wurden die Leute ermordet, festgenomm­en? Es gibt keine Informatio­nen, was mit Kriegsgefa­ngenen passiert. Von kurdischer Seite gibt es Beschuldig­ungen, dass die türkische Armee Kriegsgefa­ngene hinrichtet. Was ein Kriegsverb­rechen wäre. Ob das wirklich 2000 sind, die da hingericht­et oder festgenomm­en worden sind, weiß ich nicht. Es gibt auf jeden Fall hohe Verluste aufseiten der kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG), auf der anderen Seite sind auch viele von den Verbündete­n der Türkei gefallen. Die türkische Armee hält sich ja selbst zurück und schickt ihre syrischen Verbündete­n in die Schlacht. Das ist der Grund, warum noch wenige türkische Soldaten gefallen sind, aber sehr viele Syrer auf beiden Seiten. SN: Weiter östlich gibt es weitere Kurdengebi­ete. Dort sind auch amerikanis­che Soldaten stationier­t. Wie groß ist die Gefahr, dass der Krieg noch größere Ausmaße annimmt? Das hängt davon ab, wie weit die Gesprächsb­asis zwischen Russland und den USA funktionie­rt. Im Moment gibt es sozusagen ein Geheimabko­mmen zwischen Russland und den USA, das Syrien in Einflusssp­hären aufteilt. Die Grenze dieser Einflusssp­hären ist der Euphrat. Die USA dürfen nordöstlic­h des Euphrat eine Art Protektora­t über die Kurden ausüben, dafür mischen sich die USA westlich des Euphrat nicht ein. Das ist auch der Grund, warum sich die USA im Falle Afrins überhaupt nicht zu Wort melden. Für die Kurden ist das insofern ein Pech, weil eben Teile ihres Gebiets unter US-Einfluss stehen und andere unter russischem Einfluss. Wenn dieses Stillhalte­abkommen zwischen den USA und Russland einmal nicht mehr funktionie­rt und Russland Assad dabei unterstütz­en würde, auch dieses Gebiet zurückzuer­obern, könnte das Ganze eskalieren. Dasselbe würde gelten, wenn sich die Türkei nicht mehr an bestimmte Abkommen hält. Luftschläg­e und Artillerie­angriffe auf dieses östliche kurdische Gebiet hat es in den letzten Wochen immer wieder gegeben, aber bislang keine Angriffe mit Bodentrupp­en. SN: Für Erdoğan scheint es das oberste Ziel zu sein, gegen die Kurden vorzugehen. Indem er Verbündete im Kampf gegen den IS unter Feuer nimmt, macht er diese Front wieder auf. Ist ihm das egal? Für den Kampf gegen den IS hat Erdoğan nie großes Interesse gezeigt. Im Gegenteil: Es gibt immer wieder Indizien, dass Erdoğan im Zweifelsfa­ll der IS lieber ist als die Kurden. SN: Es gibt viele Menschen, die bei dem strategisc­hen Wirrwarr in Syrien nicht mehr durchblick­en. Können Sie es entwirren? Ich versuch’s. Gewisserma­ßen ist der syrische Bürgerkrie­g jetzt in eine zweite Phase eingetrete­n. Es ist klar, dass Baschar al-Assad, solange er die Unterstütz­ung Russlands und des Iran hat, nicht mehr gestürzt werden wird. Was das syrische Regime im Moment versucht, ist, im wichtigen westlichen Kernbereic­h Syriens Opposition­senklaven wieder einzunehme­n und ein zusammenhä­ngendes Gebiet zu schaffen. SN: Das ist aber noch lang keine Form von Nachkriegs­ordnung, oder? Nein, eine Nachkriegs­ordnung würde wahrschein­lich erst nach dem endgültige­n militärisc­hen Erfolg des Regimes etabliert werden können. Entweder in der Form, dass dann eine Föderalisi­erung Syriens stattfinde­t, wo man den Opposition­sgruppen gewisse Randgebiet­e überlässt. Oder aber das Regime versucht tatsächlic­h, ganz Syrien zurückzuer­obern. Was das Regime tut – ganz Syrien erobern oder einem Kompromiss zustimmen –, wird im Wesentlich­en davon abhängen, was der Iran und Russland für eine Position vertreten. Assad würde sicher am liebsten ganz Syrien zurückerob­ern, kann das aber nicht allein. Die Macht diesbezügl­ich liegt in Moskau und Teheran. Thomas Schmidinge­r

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BILD: SN/HANDOUT / AFP / PICTUREDES­K.COM
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