Hinter Disneyland gleich links
„Florida Project“war für zwei Oscars nominiert. Der Film erzählt von Armut, einer unerwartet bunten Kindheit und einer großen Liebe.
WIEN. Sie ist winzig, sehr frech und sehr schmutzig, und sie ist eine Heldin: Die sechsjährige Moonie (Brooklynn Prince) ist Star des Films „The Florida Project“, der am Freitag ins Kino kommt. Mit ihrem besten Freund Scooty (Christopher Rivera) treibt sie allerhand Unsinn in dem verwanzten Motel, in dem sie mit ihrer Mama Halley (Bria Vinaite) lebt, direkt unter der Nase von Hausmeister Bobby (Willem Dafoe, der für die Rolle eine Oscarnominierung erhielt).
„The Magic Castle Motel“heißt der Zweckbau verheißungsvoll, „Das Zauberschloss“, und steht ein paar Kilometer außerhalb der Disney World in Florida. Eigentlich ist das Motel für Touristen gedacht, aber vor allem leben hier Leute, die sich keine fixe Wohnung leisten können. 35 Dollar kostet die Nacht, eine Woche im Voraus zu bezahlen. Weil Jobs rar sind in der Gegend, geht Halley eben auf den Parkplätzen vor den teuren Hotels gefälschtes Parfüm verkaufen, und mit Moonie Geld für Essen erbetteln.
„The Florida Project“ist der zweite bei der Filmkritik erfolgreiche Film von Sean Baker, nach dem zuckerlbunten Straßendrama „Tangerine“über eine Transfrau, die als Prostituierte arbeitet. Auch dort war es eine Geschichte von denen, die sich mit Fröhlichkeit und Solidarität ihre aussichtslose Lage schönzureden versuchen müssen. Dass erst „The Florida Project“nun auch bei den Oscars Beachtung fand und einen regulären Kinostart bekommt, liegt an einem Kunstgriff, den schon Charles Dickens angewandt hat: Niemand interessierte sich für die Armen Londons, bis er Mitte des 19. Jahrhunderts seinen „Oliver Twist“schrieb. Ein paar Jahre später verfasste Hans Christian Andersen sein „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, und mit einem Mal begeisterte sich ganz Europa für arme kleine Kinder als literarische Helden, parallel zu einem wachsenden Bewusstsein für soziale Ungleichheit.
Der Mechanismus funktioniert im Kino genauso, seit Chaplins „The Kid“. In den vergangenen Jahren entführten „Slumdog Millionär“und „Lion“in indische Slums, „Beasts of the Southern Wild“in die Wellblechhütten am Rande von New Orleans, und „Moonlight“in ein Armenviertel von Miami, jeweils an der Hand eines kleinen Kindes – und in Wahrheit gilt das auch für Adrian Goigingers „Die beste aller Welten“: Auf einmal wird das erzählbar, wo sonst weggeschaut wird, wenn „unschuldige Kinder“als niederschwelliges Identifikationsmoment genutzt werden.
Erwachsenen, die arm sind, kann unterstellt werden, sie seien selbst schuld an ihrer Situation. Bei Kindern fällt das weg, da ist die Armut noch nicht widerlich, da besteht zumindest im Kino noch Hoffnung.
Mit diesem Instrumentarium operiert auch Sean Baker, wenn er die herzige Moonie Eisstanitzel erbetteln, in Abbruchhäusern zündeln, mit ihrer Freundin Jancey durch die sumpfige Gstettn ziehen und ein paar Kühe besuchen lässt. Das ist witzig und ergreifend, und groß. Denn „The Florida Project“fällt nicht der Versuchung anheim, wie das viele Filme und Geschichten dieser Kategorie tun: Es findet keine magische Überhöhung statt, keine äußere Macht erkennt in Moonie auf einmal das auserwählte Wunderkind. Die geografische Nähe von Moonies Zuhause und Disney World macht die Diskrepanz zwischen Wunscherzählung und Wirklichkeit für dieses Kind nur noch deutlicher: Armut ist hier nicht die Kulisse und auch nicht ein Ort, von dem es mit Fleiß und Anstrengung zu entfliehen möglich ist, sondern die harte Realität.
Eine Rettung von Einzelnen durch Einzelne ist unrealistisch. Ändern muss sich das System, das Kinder wie Moonie und ihre Mütter alleinlässt. Film: The Florida Project. Drama, USA 2017. Regie: Sean Baker. Mit Willem Dafoe, Brooklynn Prince. Start: 16. 3.