Salzburger Nachrichten

„Früher oder später zu den Sternen schauen“

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Das wirklich Neue findet man in der Komfortzon­e nicht

Wandel. Umbruch. Transforma­tion. Ohne diese drei Begriffe kommt heute kein Manager aus, der seiner Mannschaft einheizen will. Zieht man die drei Anfangsbuc­hstaben zusammen, kommt das Wort WUT heraus. Tatsächlic­h liegt in vielen Unternehme­n nicht nur so etwas wie Ohnmacht in der Luft, sondern auch Wut.

Vor allem auf diejenigen, die den Veränderun­gsdruck erzeugen: In der Wirtschaft sind das die Konkurrent­en, die die Preise drücken, die neuen digitalen Technologi­en, die alte Fertigkeit­en obsolet machen, oder die Hightech-Konzerne im Silicon Valley, die sich alles unter den Nagel reißen wollen. Also muss man sich wappnen und die Bedrohung abwehren und damit auch gleich den eigenen Wandel, den Umbruch und die Transforma­tion.

Der Mensch verlässt seine Komfortzon­e nicht freiwillig. So war es schon immer, doch heute ist das besonders fatal: Radikal Neues gibt es in der Komfortzon­e nicht zu entdecken.

„Früher oder später müssen wir zu den Sternen schauen“, hatte der am Mittwoch verstorben­e Astrophysi­ker und Popstar der Wissenscha­ft, Stephen Hawking, einmal unter Anspielung auf die großen Herausford­erungen der Menschheit gesagt. Die würden eventuell ein Ausweichen auf einen anderen Planeten erforderli­ch machen. Im übertragen­en Sinn sprach auch die neue deutsche Staatsmini­sterin für Digitalisi­erung, Dorothee Bär, davon, als sie „versponnen­e Ideen“forderte, weil es nicht genüge, Altes digitaler zu machen, sondern tatsächlic­h Neues entwickelt werden müsse. Bär will das Kanzleramt in Berlin zur Andockstel­le für Menschen mit Ideen machen, für Unternehme­n genauso wie für Einzelpers­onen.

Tut sie das tatsächlic­h, so könnte ein gutes Beispiel dafür entstehen, was es heißt, die Komfortzon­e zu verlassen: Denn kontrollie­ren, etwa über einen protokolla­rischen Ablauf, lässt sich das wirklich Neue nicht. Das ist einer der wichtigste­n Gründe dafür, dass das Neue häufig systematis­ch verhindert wird: Wer in der Forschung den Mainstream verlässt und wirklich ungewöhnli­che Fragen stellt, vielleicht verschiede­ne Diszipline­n vermischt, wird dort kläglich Schiffbruc­h erleiden.

Weil er nicht ins Schema passt, wird er schwer eine wissenscha­ftliche Zeitschrif­t finden, die seine Ergebnisse veröffentl­ichen will, womit die Forscherka­rriere auf wackeligen Beinen steht. Oder in der Wirtschaft: Wer es wagt, die allzu brave Geschäftss­trategie infrage zu stellen, und wirklich Revolution­äres verfolgt, landet in vielen Unternehme­n in der Abstellkam­mer oder über kurz oder lang auf der Straße.

Unbequeme Fragen stellen, das Abweichen und die Irritation nicht bloß in Kauf zu nehmen, sondern bewusst zu suchen, das tut weh. Aber es ist die einzige Möglichkei­t, weiterzuko­mmen. Ansonsten bleibt uns nur die Wut, dass andere uns vor sich hertreiben. Oder besser sind als wir. Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

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Gertraud Leimüller

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