1938 Das Jahr, das alles verändert
Vor 80 Jahren verkündet Hitler auf dem Heldenplatz „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“. Der Alltag von Gegnern und Befürwortern ändert sich schlagartig.
Wie kann man sich 80 Jahre später dem Jahr 1938 annähern, dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 12. März, den jubelnden Menschenmassen, dem „Anschluss“?
Historiker Thomas Weidenholzer empfiehlt: „Indem man Gegensätzliches gleichzeitig denkt.“Er forscht im Salzburger Stadtarchiv, das sich seit acht Jahren intensiv mit der NS-Zeit auseinandersetzt und bisher sieben Bände und drei Sonderpublikationen herausgegeben hat.
Weidenholzer sagt, es sei eine verlockende Vorstellung, zu glauben, die Leute seien 1938 entweder völlig für oder völlig gegen Adolf Hitler und den Nationalsozialismus gewesen. „So läuft das nicht, da gibt es ganz viele Grautöne dazwischen.“Widersprüche seien oft nicht zu Ende gedacht worden. „Ich kenne das aus Erzählungen meiner Verwandten. ,Du hast ja nichts sagen können, denn dann bist du ins KZ gekommen‘ – das war ein Stehsatz. Gleichzeitig hat man gesagt, man weiß nicht, was im KZ ist. Das passt nicht zusammen.“
Die Sehnsucht nach einem großen Reich schwingt stets mit. „1918 muss man immer mitdenken, wenn man 1938 verstehen will“, betont Weidenholzer. Der verlorene Erste Weltkrieg, die ungewollte Republik, das „Hundstrümmerl“Österreich. „Für Typen wie Hitler war 1918 ein völliges Drama, der Verrat am eigenen Volk.“
Deswegen herrscht 1938 „eine mehrheitlich positive Einstellung“zum Einmarsch der deutschen Truppen. In den letzten Monaten des Ständestaats gibt es de facto eine Doppelherrschaft in Österreich. Offiziell ist der Ständestaat noch an der Macht, „aber die illegale NS-Bewegung hat im Februar 1938 den Mainstream hinter sich. Die Mehrheit ist antisemitisch eingestellt“, sagt Weidenholzer. Viele lassen unmittelbar nach dem „Anschluss“im März 1938 ihren Rachegelüsten freien Lauf. Die ersten Opfer sind Ständestaatler: Polizeibeamte oder Richter, die zwischen 1934 und 1938 illegale Nazis verhaftet und verurteilt haben.
Schnittmengen mit den Nationalsozialisten gibt es quer durch alle politischen Lager. Die Arbeiter erhoffen sich Karrierechancen, beispielsweise bei der Reichsbahn. Im klerikalen Milieu treffen der Antijudaismus und die Ablehnung der marxistischen Idee auf Gegenliebe. Mit den Sozialdemokraten gibt es Überschneidungen beim Antiklerikalismus. Weidenholzer: „Alle diese Schnittmengen funktionieren, weil die ,Anschluss‘-Euphorie da ist. Die beginnt erst nach und nach zu bröckeln.“
Verstärkt werden diese Übereinstimmungen durch „die perfekte Propaganda der Nationalsozialisten“, erklärt Historikerin Sabine Veits-Falk, die ebenfalls im Salzburger Stadtarchiv forscht. Eine Gesellschaft könne man nicht plötzlich umpolen, wie man einen Schalter umlege. „Da muss etwas da sein, aber es muss auch etwas passieren, und das ist diese emotionale und euphorisierende Schiene, die die Nazis perfekt beherrschen.“
Ein Symbol für den Nationalsozialismus ist für Veits-Falk übrigens die Karteikarte: „Das war mir vor dem NS-Projekt unseres Stadtarchivs nicht bewusst, dieser hohe Grad an Verwaltung im Nationalsozialismus. Alles wird festgemacht und festgeschrieben, alles wird kontrolliert. Partei und Verwaltung greifen ganz stark ineinander.“
In Österreich finde der Systemwandel rascher statt als in Deutschland, „weil das Ganze in der ,Ostmark‘ fünf Jahre später passiert und die Nazis punktgenau ansetzen können“. Besonders gut sei dies bei der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt zu beobachten, die systematisch Kindergärten übernimmt und bedürftige Familien unterstützt – zu Beginn auch finanziell.
Der Haken an der Sache: Die Zuwendungen sind stets mit Überwachung und Kontrolle verbunden. Egal ob Gewerbekonzession oder Ehestandsdarlehen – die Parteileitung gibt zu jedem Verwaltungsakt ein politisches Gutachten ab. In den Wohnblöcken ist stets ein Blockwart präsent. Er gibt Propagandamaterial aus, kassiert Beiträge für das Winterhilfswerk, verteilt Lebensmittelkarten und führt über jeden Haushalt eine Kartei, in der er missliebiges Verhalten penibel notiert.
Das Prinzip ist simpel und diabolisch zugleich: Der Nationalsozialismus setzt alles auf die Volksgemeinschaft als gesellschaftliche Doktrin. „Alles für die, die dazugehören, und Vernichtung jenen, die nicht dazugehören“, bringt es Weidenholzer auf den Punkt. Nachsatz: „Es sind ziemlich viele, die nicht dazugehören.“Juden, „Zigeuner“, Kranke, Alkoholiker („Erbkranke“), Bettler („Asoziale“), politische oder religiöse Gegner, Frauen, die „verbotenen Umgang mit Fremdrassigen“haben. Wer zur Volksgemeinschaft gehört, hat zwar handfeste Vorteile, aber immer auf Kosten der Diskriminierten.
Doch das NS-Regime geht einen Schritt weiter, erklärt Weidenholzer: „Intervenieren für die eigenen Leute, das haben alle getan. Aber bei den Nationalsozialisten ist der Zug zur Vernichtung dabei, den muss man immer mitdenken.“War das denen, die dazugehörten, bewusst? „Ja und nein. Da haben wir wieder diese Gegensätzlichkeiten. Wenn sogenannte ,Asoziale‘ nach Dachau kommen, gibt es wahrscheinlich eine Mehrheit, die sagt: ,Recht geschieht ihnen, jetzt lernen sie endlich arbeiten.‘“Die „Bettlerplage“in der „Ostmark“gehört im Juli oder August 1938 der Vergangenheit an. „Dass die aber alle in einem Konzentrationslager sind, ist die andere Seite der Medaille.“
In diesem Zusammenhang kommt die österreichische Mentalität dem NS-Regime sehr stark entgegen: „Die österreichische Gesellschaft, das muss man immer wieder konstatieren, macht es sich sehr bequem und schaut nicht so genau hin“, sagt Weidenholzer. Anders gesagt: „Wer im Auktionshaus einen günstigen Tisch kaufen kann, fragt nicht, ob der arisiert ist. Oder: Endlich kriege ich eine Wohnung. Und ich will gar nicht wissen, wer vorher drinnen war.“