Spannung herrscht im Haus
Die Opéra de Lyon wurde 2017 zum Opernhaus des Jahres gewählt. Nun hat die Bayerische Staatsoper den Intendanten, Serge Dorny, als Nachfolger für Nikolaus Bachler bestellt. Eines der Erfolgsrezepte Dornys ist der planerische Wagemut.
Je länger man mit Serge Dorny zusammensitzt, desto mehr erinnert er an Gérard Mortier. Was natürlich kein Zufall ist, erstens ist auch er polyglotter, weltläufigeloquenter Belgier, zweitens war er einst dramaturgischer Mitarbeiter beim legendären Opernvisionär an der Oper in Brüssel. Seit 2003 ist Serge Dorny Intendant an der Opéra de Lyon. Ein Anlauf zur Intendantenstelle an der Semperoper in Dresden scheiterte 2014 vor Amtsantritt turbulent, Dorny wurde in Lyon allerdings wieder mit offenen Armen zurückempfangen. Das Kapitel ist für ihn geschlossen, er kann froh in die Zukunft schauen.
Vor wenigen Tagen wurde er in München als der neue Intendant der ruhmreichen Bayerischen Staatsoper ab 2021 und Nachfolger von Nikolaus Bachler vorgestellt. An seiner Seite hat Dorny als neuen musikalischen Direktor den jungen Wladimir Jurowski, der wiederum Kirill Petrenko nachfolgt. Dorny kenne Jurowski, erzählt er im SNGespräch, seit vielen Jahren. Ab 1996 war Dorny Direktor des London Philharmonic Orchestra und holte Jurowski nach England, wo auch Glyndebourne einen Stellenwert in der Zusammenarbeit einnahm. „Uns verbindet die Neugier“, sagt Dorny, und was wichtig gewesen sei, „die Chemie zwischen dem Orchester der bayerischen Staatsoper und Jurowski“stimme. Er und der Russe teilten ästhetische Visionen ebenso wie die Pläne, im Fundus der Opernliteratur aus vier Jahrhunderten nach Unbekanntem auszuschauen und die Kette in die Gegenwart nicht abreißen zu lassen. Dorny lobt Jurowksi, der Dirigent habe schon familiär das Theater in seiner DNA.
Zu Plänen in München könne er naturgemäß nichts preisgeben. Allerdings werde er „nicht kopieren“, was er in Lyon aufgebaut habe. Und das ist etwas Spezielles, das diese Oper „in der Provinz“zum spannendsten Haus in Frankreich gemacht hat. Dank der offensiven Öffentlichkeitsarbeit wurden immer wieder Journalisten aus ganz Europa eingeladen, die das Lob der Opéra de Lyon aus Überzeugung sangen.
Auch beim traditionellen OpernFestival, das Serge Dorny Mitte März jährlich schnürt, war die Aufmerksamkeit international, obwohl es sich „nur“um ein Festival im Namen Giuseppe Verdis handelte. „Nur“deshalb, weil Dorny sonst gern Uraufführungen bietet und etwa im Vorjahr eine Art Retro-Festival durchgeführt hat mit der Wiederbelebung legendärer Regiearbeiten, von „Tristan und Isolde“, die Bayreuther Arbeit von Heiner Müller, bis „Elektra“, wie sie Ruth Berghaus in Dresden herausbrachte.
Der rührige Netzwerker Dorny schafft Kooperationen mit großen und kleineren Häusern. So ist jüngst Wagners „Parsifal“in der Regie des Filmemachers François Girard, der 2012 in Lyon Premiere hatte, wieder an der Met in New York erfolgreich gelaufen. Müllers „Tristan“soll im Herbst in Linz gezeigt werden, die Grazer Oper interessiert sich dem Vernehmen nach für die „Elektra“à la Berghaus.
Auch das Programm für die Saison 2018/19, das Dorny am Samstag in Lyon vorstellte, spannt Fäden bis London, Madrid und Brüssel. Und auch hier bündelt der Opern-Planer Raritäten, unter denen Janáčeks Oper „Aus einem Totenhaus“ein geradezu populäres Stück ist. Dass Krzysztof Warlikowski inszenieren wird, verweist auch auf die eigenwilligen Regiehandschriften, die in Lyon präsentiert werden. Claus Guth – sein Lyon-Debüt – startet mit „Rodelinda“einen Händel-Zyklus, der Ukrainer Andrij Scholdak, der Tschaikowskys „Die Zauberin“inszeniert, ist zum ersten Mal in Frankreich. Bereits in Lyon gearbeitet hat der junge Ungar Dávid Márton, er bringt Henry Purcells „Dido und Aeneas“, erweitert um Kompositionen des Jazzgitarristen Kalle Kalima. Und wenn die Uraufführung von George Benjamins „Lessons in Love and Violence“zu so einem Welterfolg führen sollte wie „Written on Skin“des britischen Komponisten, kann Lyon auch seinen Anteil dran verbuchen.
Was Dornys Arbeit in Lyon so herausragend macht, ist neben dem mutigen Programm die Jugend- und Sozialarbeit. Auch beim Verdi-Festival am Wochenende: So viele junge Leute sieht man nirgends im Publikum. 42 Prozent der Besucher seien unter 45 Jahre alt, sagt Dorny.
Und wenn man das Opernhaus betritt, kann man sich an der Akrobatik jugendlicher Breakdancer vor dem Eingang erfreuen, die auf Einladung Dornys vor den soignierten Opernbesuchern ihre Künste zeigen. Sein in 18 Jahren entwickeltes Erfolgsrezept für Lyon wolle er aber sicher nicht in München kopieren, außerdem müsse er erst die Stadt an der Isar besser kennenlernen, „in Demut“. Immerhin, in München habe er dann die Stars – von Anja Harteros bis Jonas Kaufmann – zur Stelle, sie würden zur Identität des Hauses beitragen, dennoch stehe Qualität vor Name-dropping.
Das zählt auch an der Opéra de Lyon nicht, die Sänger sind aber durchwegs hervorragend. Das wiederum kam Verdis drei Opern zugute, die Dorny zum Festival bündelte. Wobei Verdis „Attila“am Sonntag konzertant aufgeführt wurde, „Macbeth“war eine ältere Arbeit des Regisseurs Ivo van Hove – nur „Don Carlos“am Samstag war neu.
Diese Verdi-Bündelung forderte besonders Chor und Orchester heraus, der junge Daniele Rustioni als neuer Chefdirigent von Lyon ist in seiner federnden Sportlichkeit gut in Form, aber auch ein hochbegabter Theatermusiker. „Macbeth“hat van Hove in eine Hochhausetage hoch über New York versetzt, Macbeth (Elchin Azizov) wird von Lady Macbeth (Susanna Branchini) in Karriere, Mord und Verderben gedrängt, die Besetzung bis hin zu Roberto Scandiuzzi als Banco ist ausgezeichnet. Nicht immer ist das Konzept logisch, Shakespeare funktioniert aber auch in der beinharten Geschäftswelt.
„Don Carlos“, also die fünfaktige, französische Fassung, ist durch den Filmregisseur Christophe Honoré in bildstarkes Dunkel getaucht, die Kostüme sind historisierend, nicht alle Regieideen überzeugen. Michele Pertusi als Philippe II. neigt zu Gewalt, Sergey Romanovsky ist ein heller Don Carlos, Roberto Scandiuzzi ist ein fundamentaler Großinquisitor, Sally Matthews ist als Elisabeth von Valois ein wenig angestrengt. Blendend ist Eve-Maud Hubeaux als Eboli, dass sie im Rollstuhl sitzen muss, eine merkwürdige Idee. Ein Missgriff ist die Regieidee, die „Ketzer“, die kunstvoll verbrannt werden, vorher in einem Veitstanz als besessene Exoten darzustellen. Toll ist Stéphane Degout als Posa, er „siegte“im Premierenjubel, der allen zuteil wurde.
„Ich werde in München nicht Lyon kopieren.“Serge Dorny, Opernintendant