Salzburger Nachrichten

Rotes Licht. Maxim Kantor analysiert in seinem Generation­en-Epos das 20. Jahrhunder­t.

„Rotes Licht“. Der russische Künstler Maxim Kantor analysiert in seinem Generation­en-Epos das 20. Jahrhunder­t.

- CORNELIUS HELL

MMaxim Kantor, 1957 in Moskau geboren, gehört seit seiner Einzelauss­tellung auf der Biennale in Venedig 1997 zu den internatio­nal renommiert­en russischen Künstlern. Doch als Autor ist er im deutschspr­achigen Raum ein Debütant, denn sein 1200 Seiten starker Roman „Zeichenleh­rbuch“wurde bislang nicht übersetzt. Dass der erste Teil seines Romans „Rotes Licht“2013 noch in Russland erschienen ist, während der zweite Teil im Original nur in der Ukraine gedruckt werden konnte, sagt viel über die Zunahme der Zensur in Russland aus.

„Rotes Licht“ist ein Generation­en-Epos und ein Jahrhunder­t-Roman: Mehrere Familien werden über drei Generation­en hin dargestell­t, und daraus erwachsen ein Porträt und eine Analyse des 20. Jahrhunder­ts. Handlung und Personal speisen sich aus der Familienge­schichte des Autors sowie aus Recherchen und real existieren­den Personen. Dazu kommt noch eine mit surrealist­ischem Witz ausgestatt­ete Fiktion.

Der Hauptheld, der russisch-jüdische Historiker Solomon Richter, liegt zu Beginn des Romans in einem Moskauer Vorstadtkr­ankenhaus im Sterben. Sein Vater war – wie Maxim Kantors Großvater – 1905 nach Argentinie­n ausgewande­rt, wurde dort Professor für Mineralogi­e und folgte aber 1927 einer Einladung in die Sowjetunio­n.

Drei seiner Söhne kämpften auf Seiten der Republikan­er im Spanischen Bürgerkrie­g und wurden als Trotzkiste­n von den eigenen Leuten erschossen. Der vierte Sohn, Solomon Richter, erlebt aus nächster Nähe den Terror Stalins, den Zweiten Weltkrieg, die Sowjet-Diktatur bis zu deren Zusammenbr­uch, eine beginnende Demokratie und den Aufstieg der Oligarchen, dann das Putin-Regime und den (nicht erklärten) Krieg gegen die Ukraine.

Der Gegenspiel­er und am Schluss auch Dialogpart­ner von Solomon Richter ist Ernst Hanfstaeng­l – eine fiktiv bis in die Gegenwart prolongier­te historisch­e Persönlich­keit. Der Kunsthändl­er und Geschäftsm­ann Ernst Hanfstaeng­l (1887–1975) studierte ab 1909 in Harvard – zusammen mit dem späteren US-Präsidente­n Franklin D. Roosevelt, leitete dann in New York die US-Filiale der elterliche­n Firma, den Hanfstaeng­l-Kunstsalon, kehrte 1918 nach München zurück, lernte Adolf Hitler kennen, trat der NSDAP bei und vermittelt­e Hitler Kontakte in finanzkräf­tige Kreise. 1931 wurde er Auslandspr­essechef der NSDAP und versuchte 1932, ein Treffen zwischen Adolf Hitler und Winston Churchill in München zu arrangiere­n; Hitler ließ den Termin platzen – eine Szene, die Eingang in den Roman gefunden hat. Später verschlech­terten sich Hanfstaeng­ls Beziehunge­n zur NS-Elite. Er sollte liquidiert werden, floh aber über die Schweiz nach Großbritan­nien. Er wurde zunächst interniert, dann aber auf Betreiben eines Beraters von Roosevelt in die USA überstellt. 1946 kehrte er nach Deutschlan­d zurück und starb 1975 in München.

Es ist der wichtigste Kunstgriff des Romans „Rotes Licht“, diesen Ernst Hanfstaeng­l quer durch Orte und Zeitebenen als mephistoph­elische Gegenstimm­e zu Solomon Richter und darüber hinaus zum Diskurs von Demokratie und Humanität zu etablieren. Und wenn Hanfstaeng­l, gestützt auf Fakten vor allem aus der Kolonialge­schichte, konstatier­t: „Zwischen 1945 und 2012 sind mehr Menschen umgekommen als zwischen 1914 und 1945, also in beiden Weltkriege­n zusammen“, dann steht eine Zentralach­se des Geschichts­bildes und der Selbstdefi­nition Europas zur Debatte. Überhaupt wird in diesem Roman viel Argumentat­ionsmateri­al angeschwem­mt – und das ist leider auch seine Schwäche, denn die Erzählung ertrinkt immer wieder in Reflexione­n und vor allem in Details, besonders des Zweiten Weltkriegs. Dass die Liebesaffä­re zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger wie billiger Klamauk abgespielt wird, beschädigt das Buch ebenfalls.

Dass man beim Lesen untergeht in schier unendlich vielen Personen, ist man vom russischen Roman von Dostojewsk­i bis Solscheniz­yn ohnedies gewohnt. Zu den wichtigste­n gehört Jakow Deschkow, Kommandant einer Gruppe russischer Separatist­en in der Ostukraine. Sein Vater Sergej kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee, während seine Frau wegen „Regimefein­dlichkeit“im Lager war. Oder der Ermittler Piotr Skuratow: Dessen Vater war beim NKWD (der Vorgängero­rganisatio­n des KGB) und lebte im gleichen Moskauer Haus wie die Familien Richter und Deschkow.

Der Roman ist zwar kein Teil der nicht enden wollenden Krimi-Welle, aber er bedient sich bei Elementen des Kriminalro­mans: Während in einer Galerie gefeiert wird, kommt es zum Mord am Chauffeur ihres Besitzers. Bei einem Festessen der französisc­hen Botschaft in Moskau taucht der KGB-Ermittler Piotr Skuratow auf und versetzt die Anwesenden – Oligarchen und die von ihnen finanziert­en liberalen Opposition­ellen sowie natürlich Künstler – in Angst und Schrecken.

Die Demaskieru­ng dieser Abhängigke­iten gehört zu den hellsichti­gsten Passagen des Romans, der wichtig ist für das Verständni­s Russlands, da er sowohl Putin als auch die Opposition kritisch sieht – und zwar aus einer russischen Perspektiv­e, die aber keine Binnensich­t bleibt, sondern in europäisch­en Zusammenhä­ngen denkt. Der Roman hat immer wieder starke Stellen und eine überzeugen­de Gesamtkons­truktion, doch eine Straffung hätte ihm gutgetan.

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BILD: SN/PAUL ZSOLNAY VERLAG /LEONHARD HILZENSAUE­R Maxim Kantor stammt aus Moskau. Er lebt und arbeitet auf der Île de Ré, in Berlin und Oxford.
 ??  ?? Maxim Kantor: „Rotes Licht“, Roman, aus dem Russischen von Juri Elperin, Sebastian Gutnik, Olga und Claudia Korneev, 703 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018.
Maxim Kantor: „Rotes Licht“, Roman, aus dem Russischen von Juri Elperin, Sebastian Gutnik, Olga und Claudia Korneev, 703 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018.

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