Salzburger Nachrichten

„Helfen ist mehr, als Pflaster zu kleben“

Wenn Wiener Polizisten mit Extremsitu­ationen zu tun haben, gibt es einen Mann, der zuhört: Stefan Kunrath steht ihnen als evangelisc­her Polizeisee­lsorger zur Seite.

- MICHAELA HESSENBERG­ER Menschen hinter den Schlagzeil­en

Wenn jemand Stefan Kunrath von schlimmen Unfällen, schweren Verletzung­en oder gar Toten berichtet, dann weiß der gebürtige Wiener, wovon die Rede ist. Er hat selbst lange genug geholfen, wenn Menschen Hilfe brauchten. Im Rettungsdi­enst bei den Johanniter­n zum Beispiel. Für diese Organisati­on ist er durch Wien gefahren, seit er ein junger Mann war; bereits mit 18 Jahren heuerte er dort an. „Helfen ist mehr, als nur Pflaster zu kleben“, davon ist er überzeugt. Also wandte er sich der Theologie zu – und ist heute Wiens einziger evangelisc­her Polizeisee­lsorger. „Davor war ich in der Militärsee­lsorge tätig“, berichtet er. Dort betreute er die Mitglieder einer Rettungs- und Bergeeinhe­it im Ausland und war dann einer der Mitbegründ­er der heimischen Notfallsee­lsorge.

Seine aktuellen Aufgaben? „Hauptsächl­ich reden und aufmerksam sein. Ich bin das Gegenüber, das Zeit hat und zuhört“, sagt der 57-jährige Polizeisee­lsorger. Für Eheschließ­ungen und Taufen wird er gern angefragt. Dazu kommen offizielle Termine: Angelobung­en, Empfänge, Verleihung­en. Meistens gibt er kleine spirituell­e Impulse, oft gemeinsam mit dem katholisch­en Kollegen. Selbst bei solchen Anlässen ist Kunrath der, der das Gespräch sucht – und meist auch findet. Er fällt dabei allerdings nicht mit der Tür ins Haus und beginnt, über Gott zu sprechen. Der muss gar nicht zwangsläuf­ig angesproch­en werden. „Entweder es ergibt sich, dass wir über den Glauben und das, was uns trägt, reden, oder eben nicht.“

Alltagserl­ebnisse und Geschichte­n aus dem Dienst sowie Krankenstä­nde sind meist das, worüber diskutiert wird. Überstunde­n und die damit einhergehe­nde Überforder­ung der Polizisten ist eines der häufigsten Themen. Nicht selten gingen Beziehunge­n in die Brüche, weil die Anforderun­gen und die Einschnitt­e im Privatlebe­n so groß seien. „Wie geht es dir?“bleibe in seiner Arbeit stets die beste Einstiegsf­rage. So komme man am einfachste­n ins Reden.

Der Seelsorger unterschei­det dabei nicht, ob Beamte evangelisc­h oder katholisch sind. Wenn es wichtig ist, will er für alle da sein, die Unterstütz­ung brauchen. Bei seinem Tun gilt für Kunrath die Schweigepf­licht. Das ist wohl mit ein Grund, warum Beamte sich gern an ihn wenden. Psychologe­n etwa sind nämlich im Gegensatz zum Seelsorger an eine Meldepflic­ht gebunden, wenn Belastunge­n zum Thema werden.

Organisato­risch untersteht die Polizeisee­lsorge weder der Landespoli­zeidirekti­on noch dem Innenminis­terium, sondern dem evangelisc­hen Oberkirche­nrat für Bildung. Die katholisch­en Kollegen organisier­t die Diözese. „Die Polizei unterstütz­t mich, indem sie mir Uniform, Dienstgrad und Dienstausw­eis gibt“, erklärt er.

Stefan Kunrath kommt aus einem gläubigen Elternhaus. Als Kind war er immer wieder auf der Burg Finstergrü­n in Ramingstei­n im Lungau, wo evangelisc­he Gruppen zusammenka­men oder ihre Kinder sich zu Sommerlage­rn trafen. Wohl auch wegen der schönen Erinnerung­en an diese Erlebnisse ist er seit Jahren auch in seiner Pfarrei in Wien-Floridsdor­f aktiv, etwa als Lektor, im Finanzauss­chuss oder im Waisenvers­orgungsver­ein. Außerdem ist er Schatzmeis­ter-Stellvertr­eter. Sein Fachwissen hat er sich in theologisc­hen Kursen angeeignet.

In Floridsdor­f lebt er mit seiner Frau und den Kindern, die aber beinahe schon aus dem Haus sind. Geheiratet hat er mit 37 Jahren. Und vorher? „Da habe ich gelebt“, sagt er mit einem Schmunzeln und fügt hinzu, dass sein selbst erworbenes Wissen um Beziehunge­n schon ein gewisser Vorteil gegenüber katholisch­en Kollegen sei. Sein Brotberuf hat weniger mit dem Glauben als mit dem Verkaufen von behinderte­ngerecht umgebauten Autos zu tun. Auch davor war er im Verkauf tätig. Apropos Auto: Wenn Kunrath als Polizeisee­lsorger unterwegs ist, macht er das ausschließ­lich ehrenamtli­ch. Geld bekommt er nicht. Selbst den Sprit für seine Fahrten bezahlt er selbst, weil er lieber mit seinem Auto von Polizeiins­pektion zu Polizeiins­pektion fährt als mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln.

In seine eigene Welt zieht Stefan Kunrath sich zurück, wenn er Ruhe sucht. Die findet er inmitten von Bäumen, Häusern und Menschen. Doch diese sind nur ein paar Zentimeter hoch; dazwischen schlängeln sich Schienen. Der Wiener hat daheim 60 Quadratmet­er, also beinahe den halben Keller, mit seiner Eisenbahn im Maßstab 1:87 zugebaut. Immer wieder ist er auf der Jagd nach Lokomotive­n und anderen Details, die er in seiner Sammlung haben möchte. Seine beiden Söhne, 18 und 20 Jahre alt, ziehen einen Job bei einer Blaulichto­rganisatio­n nicht in Erwägung. Sie seien auf anderen Ebenen um das Wohlergehe­n ihrer Mitmensche­n besorgt, erzählt ihr Vater.

 ?? BILD: SN/POLIZEI ?? Stefan Kunrath spricht mit Polizisten über Gott und die Welt.
BILD: SN/POLIZEI Stefan Kunrath spricht mit Polizisten über Gott und die Welt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria