„Helfen ist mehr, als Pflaster zu kleben“
Wenn Wiener Polizisten mit Extremsituationen zu tun haben, gibt es einen Mann, der zuhört: Stefan Kunrath steht ihnen als evangelischer Polizeiseelsorger zur Seite.
Wenn jemand Stefan Kunrath von schlimmen Unfällen, schweren Verletzungen oder gar Toten berichtet, dann weiß der gebürtige Wiener, wovon die Rede ist. Er hat selbst lange genug geholfen, wenn Menschen Hilfe brauchten. Im Rettungsdienst bei den Johannitern zum Beispiel. Für diese Organisation ist er durch Wien gefahren, seit er ein junger Mann war; bereits mit 18 Jahren heuerte er dort an. „Helfen ist mehr, als nur Pflaster zu kleben“, davon ist er überzeugt. Also wandte er sich der Theologie zu – und ist heute Wiens einziger evangelischer Polizeiseelsorger. „Davor war ich in der Militärseelsorge tätig“, berichtet er. Dort betreute er die Mitglieder einer Rettungs- und Bergeeinheit im Ausland und war dann einer der Mitbegründer der heimischen Notfallseelsorge.
Seine aktuellen Aufgaben? „Hauptsächlich reden und aufmerksam sein. Ich bin das Gegenüber, das Zeit hat und zuhört“, sagt der 57-jährige Polizeiseelsorger. Für Eheschließungen und Taufen wird er gern angefragt. Dazu kommen offizielle Termine: Angelobungen, Empfänge, Verleihungen. Meistens gibt er kleine spirituelle Impulse, oft gemeinsam mit dem katholischen Kollegen. Selbst bei solchen Anlässen ist Kunrath der, der das Gespräch sucht – und meist auch findet. Er fällt dabei allerdings nicht mit der Tür ins Haus und beginnt, über Gott zu sprechen. Der muss gar nicht zwangsläufig angesprochen werden. „Entweder es ergibt sich, dass wir über den Glauben und das, was uns trägt, reden, oder eben nicht.“
Alltagserlebnisse und Geschichten aus dem Dienst sowie Krankenstände sind meist das, worüber diskutiert wird. Überstunden und die damit einhergehende Überforderung der Polizisten ist eines der häufigsten Themen. Nicht selten gingen Beziehungen in die Brüche, weil die Anforderungen und die Einschnitte im Privatleben so groß seien. „Wie geht es dir?“bleibe in seiner Arbeit stets die beste Einstiegsfrage. So komme man am einfachsten ins Reden.
Der Seelsorger unterscheidet dabei nicht, ob Beamte evangelisch oder katholisch sind. Wenn es wichtig ist, will er für alle da sein, die Unterstützung brauchen. Bei seinem Tun gilt für Kunrath die Schweigepflicht. Das ist wohl mit ein Grund, warum Beamte sich gern an ihn wenden. Psychologen etwa sind nämlich im Gegensatz zum Seelsorger an eine Meldepflicht gebunden, wenn Belastungen zum Thema werden.
Organisatorisch untersteht die Polizeiseelsorge weder der Landespolizeidirektion noch dem Innenministerium, sondern dem evangelischen Oberkirchenrat für Bildung. Die katholischen Kollegen organisiert die Diözese. „Die Polizei unterstützt mich, indem sie mir Uniform, Dienstgrad und Dienstausweis gibt“, erklärt er.
Stefan Kunrath kommt aus einem gläubigen Elternhaus. Als Kind war er immer wieder auf der Burg Finstergrün in Ramingstein im Lungau, wo evangelische Gruppen zusammenkamen oder ihre Kinder sich zu Sommerlagern trafen. Wohl auch wegen der schönen Erinnerungen an diese Erlebnisse ist er seit Jahren auch in seiner Pfarrei in Wien-Floridsdorf aktiv, etwa als Lektor, im Finanzausschuss oder im Waisenversorgungsverein. Außerdem ist er Schatzmeister-Stellvertreter. Sein Fachwissen hat er sich in theologischen Kursen angeeignet.
In Floridsdorf lebt er mit seiner Frau und den Kindern, die aber beinahe schon aus dem Haus sind. Geheiratet hat er mit 37 Jahren. Und vorher? „Da habe ich gelebt“, sagt er mit einem Schmunzeln und fügt hinzu, dass sein selbst erworbenes Wissen um Beziehungen schon ein gewisser Vorteil gegenüber katholischen Kollegen sei. Sein Brotberuf hat weniger mit dem Glauben als mit dem Verkaufen von behindertengerecht umgebauten Autos zu tun. Auch davor war er im Verkauf tätig. Apropos Auto: Wenn Kunrath als Polizeiseelsorger unterwegs ist, macht er das ausschließlich ehrenamtlich. Geld bekommt er nicht. Selbst den Sprit für seine Fahrten bezahlt er selbst, weil er lieber mit seinem Auto von Polizeiinspektion zu Polizeiinspektion fährt als mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
In seine eigene Welt zieht Stefan Kunrath sich zurück, wenn er Ruhe sucht. Die findet er inmitten von Bäumen, Häusern und Menschen. Doch diese sind nur ein paar Zentimeter hoch; dazwischen schlängeln sich Schienen. Der Wiener hat daheim 60 Quadratmeter, also beinahe den halben Keller, mit seiner Eisenbahn im Maßstab 1:87 zugebaut. Immer wieder ist er auf der Jagd nach Lokomotiven und anderen Details, die er in seiner Sammlung haben möchte. Seine beiden Söhne, 18 und 20 Jahre alt, ziehen einen Job bei einer Blaulichtorganisation nicht in Erwägung. Sie seien auf anderen Ebenen um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen besorgt, erzählt ihr Vater.