Lasst sie streiten!
Warum politischer Zwist und polemische Parlamentsdebatten kein Ärgernis sind, sondern eine demokratische Notwendigkeit.
40 Regierungen weltweit haben in den vergangenen zwei Jahren den Rechtsstaat zurückgestutzt, um ihre Macht und ein System der Selbstbereicherung zu erhalten. 50 Staatsführungen weltweit haben politische Freiheiten eingeschränkt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der deutschen Bertelsmann-Stiftung, die in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde. Das Reich der Finsternis umfasst nicht nur Bananenrepubliken in fernen Weltgegenden, sondern auch nähere und nicht ganz so nahe Nachbarn wie Ungarn und die Türkei.
Und Österreich? Hierzulande hat kürzlich das SORA-Institut erhoben, dass mehr als ein Viertel der Österreicher der folgenden Aussage „sehr“oder „ziemlich“zustimmt: „Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um ein Parlament und Wahlen kümmern muss.“Was ein etwas komplizierterer Ausdruck für den Begriff „Diktatur“ist. Dass gleichzeitig laut SORA 94 Prozent der Österreicher die Demokratie für die „beste Staatsform“halten, zeugt von einem verqueren Polit-Bild vieler unserer Zeitgenossen: Man will die Macht nach oben delegieren, am besten an einen „guten Diktator“, und im Übrigen nicht mit Dingen wie lärmenden Parlamentsdebatten, parteipolitischen Zwistigkeiten und oppositionellen Unkenrufen behelligt werden.
Die von vielen ersehnte Regentschaft durch einen „guten Diktator“scheitert an der unleugbaren Tatsache, dass es den „guten Diktator“nicht gibt und auch nicht geben kann. In Tausenden Jahren Politikgeschichte ist kein Fall eines Herrschers bekannt, der absolute Macht hatte und diese nicht missbraucht hätte. Die harmlose Variante besteht darin, dass der „gute Diktator“auf Kosten seiner Untertanen sich und seinem Klüngel die Taschen vollstopft. Die weniger harmlose Variante, derzeit beispielsweise in etlichen afrikanischen Staaten in unterschiedlicher Ausprägung zu besichtigen, besteht darin, dass das Volk blutig unterdrückt und mit Bürgerkriegen und Massenmorden drangsaliert wird.
Von alledem ist Österreich weit entfernt. Doch mitunter ist es angebracht, in Erinnerung zu rufen, dass politischer Streit und polemische Parlamentsdebatten kein Ärgernis sind, auch wenn sie von vielen Mitbürgern oft als solche empfunden werden, sondern die Grundzutaten jeder Demokratie. Die vom Stammtisch aus gern an die politische Klasse gerichtete Aufforderung „Die sollen nicht streiten, sondern arbeiten“geht an der Sache vorbei. In einer Demokratie ist Streit ein wesentlicher Teil der Arbeit. So wie wissenschaftlicher Fortschritt durch These und Gegenthese entsteht, entsteht demokratischer Fortschritt durch Argument und Gegenargument.
Weshalb auch dem Phänomen des Wahlkampfs, der in der Öffentlichkeit ja generell keine allzu gute Reputation genießt, Ehre gebührt. Wie wir seit Karl Popper wissen, ist es die wesentliche Eigenschaft einer Demokratie, dass das Volk die Herrschenden auf unblutige Weise loswerden kann. Am besten durch Wahlen. Diese sind, wie der Parteienstreit, eine Grundzutat der Demokratie, erfordern ein Mindestmaß an öffentlichem Parteienwettstreit vulgo Wahlkampf und haben es nicht verdient, als lästiges Übel bekrittelt zu werden.
Eine bessere Demokratie entsteht also nicht durch Streitvermeidung, sondern durch Transparenz. Siehe Österreich: Dubiose Hausdurchsuchungen, brutale Umfärbeaktionen und sonstige Ärgernisse können die Demokratie nicht gefährden, wenn gesichert ist, dass Medien, Staatsanwälte und Untersuchungsausschüsse diesen Dingen auf den Grund gehen können. Notwendig sind also umfassende Kontrollrechte der Opposition und umfassende Recherchemöglichkeiten für die Medien. Wozu ein Informationsgesetz dienlich sein könnte, das die alte Regierung in Aussicht gestellt, die neue Regierung aber interessanterweise von ihrer Agenda gestrichen hat.
Im Übrigen ist es angebracht, die politische Wahrnehmung der europäischen Öffentlichkeit zu hinterfragen. Die Demokratie Israel wird von weiten Kreisen der Öffentlichkeit kritischer bewertet als die umliegenden arabischen Diktaturen. Donald Trump zieht mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, wenn er eine Pressesprecherin feuert, als Wladimir Putin, wenn er eine ganze Weltgegend in Schutt und Asche bomben lässt. Donald Trump und Kim Jong Un gelten vielen Kommentatoren gleichermaßen als gefährliche Irre, obwohl der eine durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen und der andere tatsächlich ein gefährlicher Irrer ist.
Wer Demokraten und Nichtdemokraten unterschiedslos in einen Topf wirft, verliert allmählich das Sensorium für den Wert der Demokratie.
Der Unterschied zwischen Donald Trump und Kim Jong Un