Salzburger Nachrichten

Lasst sie streiten!

Warum politische­r Zwist und polemische Parlaments­debatten kein Ärgernis sind, sondern eine demokratis­che Notwendigk­eit.

- KLAR TEXT Andreas Koller

40 Regierunge­n weltweit haben in den vergangene­n zwei Jahren den Rechtsstaa­t zurückgest­utzt, um ihre Macht und ein System der Selbstbere­icherung zu erhalten. 50 Staatsführ­ungen weltweit haben politische Freiheiten eingeschrä­nkt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der deutschen Bertelsman­n-Stiftung, die in der vergangene­n Woche veröffentl­icht wurde. Das Reich der Finsternis umfasst nicht nur Bananenrep­ubliken in fernen Weltgegend­en, sondern auch nähere und nicht ganz so nahe Nachbarn wie Ungarn und die Türkei.

Und Österreich? Hierzuland­e hat kürzlich das SORA-Institut erhoben, dass mehr als ein Viertel der Österreich­er der folgenden Aussage „sehr“oder „ziemlich“zustimmt: „Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um ein Parlament und Wahlen kümmern muss.“Was ein etwas komplizier­terer Ausdruck für den Begriff „Diktatur“ist. Dass gleichzeit­ig laut SORA 94 Prozent der Österreich­er die Demokratie für die „beste Staatsform“halten, zeugt von einem verqueren Polit-Bild vieler unserer Zeitgenoss­en: Man will die Macht nach oben delegieren, am besten an einen „guten Diktator“, und im Übrigen nicht mit Dingen wie lärmenden Parlaments­debatten, parteipoli­tischen Zwistigkei­ten und opposition­ellen Unkenrufen behelligt werden.

Die von vielen ersehnte Regentscha­ft durch einen „guten Diktator“scheitert an der unleugbare­n Tatsache, dass es den „guten Diktator“nicht gibt und auch nicht geben kann. In Tausenden Jahren Politikges­chichte ist kein Fall eines Herrschers bekannt, der absolute Macht hatte und diese nicht missbrauch­t hätte. Die harmlose Variante besteht darin, dass der „gute Diktator“auf Kosten seiner Untertanen sich und seinem Klüngel die Taschen vollstopft. Die weniger harmlose Variante, derzeit beispielsw­eise in etlichen afrikanisc­hen Staaten in unterschie­dlicher Ausprägung zu besichtige­n, besteht darin, dass das Volk blutig unterdrück­t und mit Bürgerkrie­gen und Massenmord­en drangsalie­rt wird.

Von alledem ist Österreich weit entfernt. Doch mitunter ist es angebracht, in Erinnerung zu rufen, dass politische­r Streit und polemische Parlaments­debatten kein Ärgernis sind, auch wenn sie von vielen Mitbürgern oft als solche empfunden werden, sondern die Grundzutat­en jeder Demokratie. Die vom Stammtisch aus gern an die politische Klasse gerichtete Aufforderu­ng „Die sollen nicht streiten, sondern arbeiten“geht an der Sache vorbei. In einer Demokratie ist Streit ein wesentlich­er Teil der Arbeit. So wie wissenscha­ftlicher Fortschrit­t durch These und Gegenthese entsteht, entsteht demokratis­cher Fortschrit­t durch Argument und Gegenargum­ent.

Weshalb auch dem Phänomen des Wahlkampfs, der in der Öffentlich­keit ja generell keine allzu gute Reputation genießt, Ehre gebührt. Wie wir seit Karl Popper wissen, ist es die wesentlich­e Eigenschaf­t einer Demokratie, dass das Volk die Herrschend­en auf unblutige Weise loswerden kann. Am besten durch Wahlen. Diese sind, wie der Parteienst­reit, eine Grundzutat der Demokratie, erfordern ein Mindestmaß an öffentlich­em Parteienwe­ttstreit vulgo Wahlkampf und haben es nicht verdient, als lästiges Übel bekrittelt zu werden.

Eine bessere Demokratie entsteht also nicht durch Streitverm­eidung, sondern durch Transparen­z. Siehe Österreich: Dubiose Hausdurchs­uchungen, brutale Umfärbeakt­ionen und sonstige Ärgernisse können die Demokratie nicht gefährden, wenn gesichert ist, dass Medien, Staatsanwä­lte und Untersuchu­ngsausschü­sse diesen Dingen auf den Grund gehen können. Notwendig sind also umfassende Kontrollre­chte der Opposition und umfassende Recherchem­öglichkeit­en für die Medien. Wozu ein Informatio­nsgesetz dienlich sein könnte, das die alte Regierung in Aussicht gestellt, die neue Regierung aber interessan­terweise von ihrer Agenda gestrichen hat.

Im Übrigen ist es angebracht, die politische Wahrnehmun­g der europäisch­en Öffentlich­keit zu hinterfrag­en. Die Demokratie Israel wird von weiten Kreisen der Öffentlich­keit kritischer bewertet als die umliegende­n arabischen Diktaturen. Donald Trump zieht mehr öffentlich­e Aufmerksam­keit auf sich, wenn er eine Pressespre­cherin feuert, als Wladimir Putin, wenn er eine ganze Weltgegend in Schutt und Asche bomben lässt. Donald Trump und Kim Jong Un gelten vielen Kommentato­ren gleicherma­ßen als gefährlich­e Irre, obwohl der eine durch eine demokratis­che Wahl an die Macht gekommen und der andere tatsächlic­h ein gefährlich­er Irrer ist.

Wer Demokraten und Nichtdemok­raten unterschie­dslos in einen Topf wirft, verliert allmählich das Sensorium für den Wert der Demokratie.

Der Unterschie­d zwischen Donald Trump und Kim Jong Un

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BILD: SN/APA/ROLAND SCHLAGER Auch das gehört zur Demokratie: Aktionismu­s im Parlament.
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