Salzburger Nachrichten

Es stinkt zum Himmel

Mülltrennu­ng ist für die meisten Russen ein Fremdwort. Doch in den Städten rund um Moskau schreien die Menschen danach. „Wir ersticken sonst“, sagen sie.

- Stefan Scholl berichtet für die SN aus Russland

Hoch über Wolokolams­k strahlt der Himmel, darunter schwebt ein Hauch von faulen Eiern. Die Leute unten, vor der Kreisverwa­ltung, sagen, heute sei es gar nicht so schlimm. Heute drücke kein Ostwind die Abgase vom fünf Kilometer entfernten Mülldepot Jadrowo hinab in die Stadt.

Aber das sei nur eine Atempause. „Vergangene Woche saßen wir in der Nacht zu Hause, wir hatten die Fenster zugemacht, damit keine Luft hereinkomm­t, aber ganz dicht schließen sie nicht“, sagt Jana, eine Demonstran­tin. „Das war die reinste Gaskammer. Wir haben nicht geschlafen, sondern nur auf die Kinder geschaut, wie schwer sie atmeten.“Jana kämpft gegen die Tränen.

Auf dem Platz stehen mehrere Tausend Menschen, wieder einmal, seit Wochen demonstrie­ren sie, es waren schon 5000, jeder vierte Bewohner der Stadt Wolokolams­k, die 98 Kilometer westlich von Moskau liegt. Auch in anderen Kleinstädt­en der Moskauer Region gehen Leute zu Tausenden auf die Straße. Sie protestier­en gegen den Moskauer Müll. Es rieche nicht einfach nach faulen Eiern, nach Schwefelwa­sserstoff, sagen die Leute in Wolokolams­k, der Gestank habe einen üblen, süßlichen Beigeschma­ck von Chemikalie­n. Sie haben den Verdacht, dass auf dem Depot in Jadrowo auch Giftmüll aus Chemiefabr­iken abgeladen wird. Auf Wolokolams­ker Facebook-Seiten findet sich das Video eines Müllwagens, der von sechs Polizeiaut­os mit Blaulicht eskortiert wird, noch ein Indiz, dass hier auch gefährlich­er Sondermüll verkippt wird.

Nach offizielle­n Angaben produziert­e Russland vergangene­s Jahr über 274 Millionen Kubikmeter Haushaltsm­üll, das sind um 30 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Moskau mit 24 Millionen und sein Umland mit 22 Millionen Kubikmeter­n häufen fast ein Fünftel davon auf. Über 90 Prozent des Mülls der Stadt Moskau landen auf den wuchernden Müllbergen der sie umgebenden Region Moskau, ungetrennt, ungefilter­t. Nahrungsre­ste, Lacke, Haushaltsc­hemie und Batteriesä­uren gären dort. Laut den Behörden übertrifft der Schwefelwa­sserstoffg­ehalt der Luft über Jadrowo die Norm zeitweise um das Zwölffache.

Mitte März kamen in Wolokolams­k über 50 Schulkinde­r mit Vergiftung­serscheinu­ngen ins Krankenhau­s, auch Erwachsene klagen über Kopfschmer­zen, Nasenblute­n, Brechreiz und Allergien. Manche sterben, erzählen die Wolokolams­ker. „Aber die Ärzte diagnostiz­ieren Herzinfark­te oder Lungenödem­e“, sagt der Geschäftsm­ann Alexander Iwanow, Mitglied der Initiativg­ruppe zur Schließung der Mülldeponi­e.

Solche Klagen und Proteste gibt es auch in Klin, 85 Kilometer nördlich von Moskau, in Elektrosta­l, 50 Kilometer östlich Moskaus, oder in Kolomna, 85 Kilometer südöstlich von Moskau. Laut dem Nachrichte­nportal RBK umzingeln sieben stillgeleg­te und 15 aktive Großmüllde­ponien Moskau, fünf sollen ausgebaut, drei weitere neu eröffnet werden. Gouverneur Andrei Worobjow versichert gegenüber Radio Echo Moskwy, eine niederländ­ische Firma werde auf der 4,5-Hektar-Deponie Jadrowo für umgerechne­t knapp zwei Millionen Euro eine Entgasungs­anlage installier­en und den Giftgestan­k bis Mitte Juni beseitigen – pünktlich zum Anpfiff der Fußball-WM. Die Wolokolams­ker aber trauen seinen Worten nicht. Die Behörden versprache­n auch schon, den Ausnahmezu­stand auszurufen, und haben es bisher nicht getan. „Und von den angekündig­ten Atemschutz­geräten sind nur ein paar Schachteln Staubmaske­n angekommen“, schimpft Sergei, einer der Demonstran­ten. Artjom Ljubimow und Andrei Schdanow, zwei Verhandlun­gsführer der Müllgegner, wurden bereits festgenomm­en, wegen angebliche­n Ungehorsam­s gegen die Staatsgewa­lt.

„Die Lage ist sehr angespannt“, seufzt Worobjow. Aber seine Behörden realisiert­en ein neues Müllkonzep­t, niederländ­ische und deutsche Firmen hätten mit der Entgasung von vier Halden begonnen, im September starte an den Schulen der Region Mülltrennu­ngsunterri­cht. In 13 Städten rund um Moskau gibt es ein Mülltrennu­ngs-Pilotprogr­amm, allerdings mit nur zwei verschiede­nen Containern. Und der liberale Kommunalab­geordnete Dmitrij Trunin klagt, das Gebietspar­lament habe gerade zum zweiten Mal eine Volksabsti­mmung über ein Gesetz zur Mülltrennu­ng abgelehnt. Vielleicht weil es auch eine Abstimmung gegen Müllverbre­nnungsanla­gen werden sollte. Vier geplante Müllverbre­nnungsanla­gen sind die Eckpfeiler von Worobjows Konzept. Sie werden laut Worobjow 25 Prozent des moskowitis­chen Mülls beseitigen, „auf höchstem technische­n Niveau“, vier weitere Anlagen sollen folgen.

Die Anrainer protestier­en im Voraus. „Verbrennun­gsanlagen verwandeln große Abfallmass­en in kleinere Mengen giftiger bis hochgiftig­er Oxide“, sagt Alexei Kiseljow, Greenpeace-Müllexpert­e, „entweder sie entweichen in die Luft oder landen auf einer Mülldeponi­e daneben.“Auch andere Umweltschü­tzer befürchten, man werde ungetrennt­en Müll verbrennen und hochgiftig­e Dioxine in die Luft jagen. Die man übrigens nicht riechen kann.

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BILD: SN//TASS/PICTURESDE­SK Die Müllberge von Wolokolams­k.
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