Es stinkt zum Himmel
Mülltrennung ist für die meisten Russen ein Fremdwort. Doch in den Städten rund um Moskau schreien die Menschen danach. „Wir ersticken sonst“, sagen sie.
Hoch über Wolokolamsk strahlt der Himmel, darunter schwebt ein Hauch von faulen Eiern. Die Leute unten, vor der Kreisverwaltung, sagen, heute sei es gar nicht so schlimm. Heute drücke kein Ostwind die Abgase vom fünf Kilometer entfernten Mülldepot Jadrowo hinab in die Stadt.
Aber das sei nur eine Atempause. „Vergangene Woche saßen wir in der Nacht zu Hause, wir hatten die Fenster zugemacht, damit keine Luft hereinkommt, aber ganz dicht schließen sie nicht“, sagt Jana, eine Demonstrantin. „Das war die reinste Gaskammer. Wir haben nicht geschlafen, sondern nur auf die Kinder geschaut, wie schwer sie atmeten.“Jana kämpft gegen die Tränen.
Auf dem Platz stehen mehrere Tausend Menschen, wieder einmal, seit Wochen demonstrieren sie, es waren schon 5000, jeder vierte Bewohner der Stadt Wolokolamsk, die 98 Kilometer westlich von Moskau liegt. Auch in anderen Kleinstädten der Moskauer Region gehen Leute zu Tausenden auf die Straße. Sie protestieren gegen den Moskauer Müll. Es rieche nicht einfach nach faulen Eiern, nach Schwefelwasserstoff, sagen die Leute in Wolokolamsk, der Gestank habe einen üblen, süßlichen Beigeschmack von Chemikalien. Sie haben den Verdacht, dass auf dem Depot in Jadrowo auch Giftmüll aus Chemiefabriken abgeladen wird. Auf Wolokolamsker Facebook-Seiten findet sich das Video eines Müllwagens, der von sechs Polizeiautos mit Blaulicht eskortiert wird, noch ein Indiz, dass hier auch gefährlicher Sondermüll verkippt wird.
Nach offiziellen Angaben produzierte Russland vergangenes Jahr über 274 Millionen Kubikmeter Haushaltsmüll, das sind um 30 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Moskau mit 24 Millionen und sein Umland mit 22 Millionen Kubikmetern häufen fast ein Fünftel davon auf. Über 90 Prozent des Mülls der Stadt Moskau landen auf den wuchernden Müllbergen der sie umgebenden Region Moskau, ungetrennt, ungefiltert. Nahrungsreste, Lacke, Haushaltschemie und Batteriesäuren gären dort. Laut den Behörden übertrifft der Schwefelwasserstoffgehalt der Luft über Jadrowo die Norm zeitweise um das Zwölffache.
Mitte März kamen in Wolokolamsk über 50 Schulkinder mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus, auch Erwachsene klagen über Kopfschmerzen, Nasenbluten, Brechreiz und Allergien. Manche sterben, erzählen die Wolokolamsker. „Aber die Ärzte diagnostizieren Herzinfarkte oder Lungenödeme“, sagt der Geschäftsmann Alexander Iwanow, Mitglied der Initiativgruppe zur Schließung der Mülldeponie.
Solche Klagen und Proteste gibt es auch in Klin, 85 Kilometer nördlich von Moskau, in Elektrostal, 50 Kilometer östlich Moskaus, oder in Kolomna, 85 Kilometer südöstlich von Moskau. Laut dem Nachrichtenportal RBK umzingeln sieben stillgelegte und 15 aktive Großmülldeponien Moskau, fünf sollen ausgebaut, drei weitere neu eröffnet werden. Gouverneur Andrei Worobjow versichert gegenüber Radio Echo Moskwy, eine niederländische Firma werde auf der 4,5-Hektar-Deponie Jadrowo für umgerechnet knapp zwei Millionen Euro eine Entgasungsanlage installieren und den Giftgestank bis Mitte Juni beseitigen – pünktlich zum Anpfiff der Fußball-WM. Die Wolokolamsker aber trauen seinen Worten nicht. Die Behörden versprachen auch schon, den Ausnahmezustand auszurufen, und haben es bisher nicht getan. „Und von den angekündigten Atemschutzgeräten sind nur ein paar Schachteln Staubmasken angekommen“, schimpft Sergei, einer der Demonstranten. Artjom Ljubimow und Andrei Schdanow, zwei Verhandlungsführer der Müllgegner, wurden bereits festgenommen, wegen angeblichen Ungehorsams gegen die Staatsgewalt.
„Die Lage ist sehr angespannt“, seufzt Worobjow. Aber seine Behörden realisierten ein neues Müllkonzept, niederländische und deutsche Firmen hätten mit der Entgasung von vier Halden begonnen, im September starte an den Schulen der Region Mülltrennungsunterricht. In 13 Städten rund um Moskau gibt es ein Mülltrennungs-Pilotprogramm, allerdings mit nur zwei verschiedenen Containern. Und der liberale Kommunalabgeordnete Dmitrij Trunin klagt, das Gebietsparlament habe gerade zum zweiten Mal eine Volksabstimmung über ein Gesetz zur Mülltrennung abgelehnt. Vielleicht weil es auch eine Abstimmung gegen Müllverbrennungsanlagen werden sollte. Vier geplante Müllverbrennungsanlagen sind die Eckpfeiler von Worobjows Konzept. Sie werden laut Worobjow 25 Prozent des moskowitischen Mülls beseitigen, „auf höchstem technischen Niveau“, vier weitere Anlagen sollen folgen.
Die Anrainer protestieren im Voraus. „Verbrennungsanlagen verwandeln große Abfallmassen in kleinere Mengen giftiger bis hochgiftiger Oxide“, sagt Alexei Kiseljow, Greenpeace-Müllexperte, „entweder sie entweichen in die Luft oder landen auf einer Mülldeponie daneben.“Auch andere Umweltschützer befürchten, man werde ungetrennten Müll verbrennen und hochgiftige Dioxine in die Luft jagen. Die man übrigens nicht riechen kann.