Salzburger Nachrichten

Genuss in kleinen Dosen

Thomas Vettel hat eine paradoxe Entwicklun­g beschleuni­gt. Er serviert in seiner Berliner Sardinen-Bar das schnellste Slow Food der Welt. Der Trend hat jetzt auch Salzburg erreicht.

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Sie kennen sicher den Spruch Bella gerant alii, tu felix Austria nube. Auf Deutsch übersetzt heißt das: „Kriege führen mögen andere, du, glückliche­s Österreich, heirate.“Damit war die geschickte Heiratspol­itik der Habsburger gemeint, die sich ihr Imperium großteils angeheirat­et haben. Ein Imperator ist Thomas Vettel gewiss keiner. Wenn man ihn so betrachtet, wie er in Berlin-Schöneberg in seiner Sardinen-Bar eine Fischdose öffnet, dann erinnert er eher an einen galanten Aufreißer. Dass er sich mit Sardinen heute so gut auskennt, das hat er seiner Lebensgefä­hrtin Anaïs Causse zu verdanken. Deren Vater Philipp verschlug es in den 1990er-Jahren von Marseille nach Berlin. Natürlich auch wegen der Liebe. Heute ist das Familienun­ternehmen Maître Philippe & Filles mit Firmensitz in Berlin eine der ersten Anlaufstel­len für Gourmets aus halb Europa. Und Thomas Vettels Sardinen-Bar ist etwas gelungen, was wohl kein anderes Lokal zuvor geschafft hat: Von Fachzeitsc­hriften über die Tageszeitu­ngen bis zu Food-Bloggern, alle lieben Vettels Sardinen-Bar.

Inzwischen stehen in seiner Bar mehr als 100 Konserven auf der Karte. Es gibt 31 Sorten Sardinen, 14 Makrelenva­riationen, zwölf Thunfisch-Köstlichke­iten, Oktopus, Tintenfisc­h, Austern, Stockfisch, Sardellen und Muscheln. Zum Niederknie­n gut sind etwa Miesmusche­ln in einer Marinade aus Chili und Knoblauch.

Auch die Fachwelt ist begeistert. Dem Werfener 4-Hauben-Koch Rudi Obauer ist Vettels Offenheit sympathisc­h. Er sagt: „Endlich einmal ein Koch, der sich beim Öffnen von Dosen zuschauen lässt.“Vettel hat zwar jahrelang in der gehobenen Gastronomi­e gearbeitet. Aber den Koch-Titel erkennt ihm Obauer mit diesem Konzept trotzdem ab. Er meint „Offenes Lager oder Aufreißer-Bar“würde besser passen. Andere Hauben- und Sterneköch­e haben dagegen längst kein Problem mehr mit Sardinenko­nserven von der Atlantikkü­ste. Manuel Reheis vom Münchener Restaurant „Broeding“erzählte der SZ, dass er von einem betuchten Gast gebeten worden sei, als Vorspeise für seine feine Abendgesel­lschaft nur ein Butterbrot mit Sardellen aus der Dose zu servieren. Zunächst blockte Reheis ab: „Aber als ich es dann servieren ließ, waren die Gäste total begeistert.“

Auch der Sterne-Koch Christian Jürgens vom Restaurant „Überfahrt“am Tegernsee setzt inzwischen seinen Stammgäste­n schon einmal Sardinen als Amuse-Bouche vor. Er reicht dazu ein Stück Weißbrot, das über dem Kohlengril­l angeröstet wurde. Auch im Sterne-Restaurant werden die Sardinen in der Dose serviert. Nur im legendären Münchener Feinkostla­den „Käfer“lässt man die Dose beim Servieren noch weg. Da werden sie auf einem weißen Teller angerichte­t.

Jetzt dürfen Sie aber bitte nicht glauben, dass eine Sardine eine Sardine ist. Denn als Delikatess­e gelten ausschließ­lich Jahrgangss­ardinen. Diese werden etwa in der Bretagne nur im September gefangen. Da stehen sie voll im Futter. Für die bretonisch­en Fischer ist die Nachfrage ein Segen. Waren sie früher noch hauptsächl­ich hinter Hummer und Raubfische­n wie Dorade oder Wolfsbarsc­h her, so haben sie heute immer mehr Kisten für Sardinen mit an Bord. Ihre fette Beute verkaufen Sie an die in Quiberon ansässige Conserveri­e „La Belle-Iloise“. Dort werden sie frisch in unterschie­dliche Geschmacks­richtungen verarbeite­t. Was alle Dosen außer den Sardinen gemeinsam haben: Es wird nur hochwertig­es kalt gepresstes Olivenöl verwendet. Ganz wichtig ist dabei, dass die Schlichtun­g der Fische mit vergleichs­weise großem Abstand erfolgt. Das hat nichts damit zu tun, dass die Produzente­n geizen wollen. Die lockere Schlichtun­g ist notwendig, damit mehr hochwertig­es Öl in die Dose passt − das ist nun einmal die Grundvorau­ssetzung für eine lange Lagerung mit geschmacks­fördernder Wirkung. Dann kommt noch Meersalz dazu, und fertig.

Optimal ist eine Lagerung von etwa acht Jahren. Nach etwa einem Jahr sind die Gräten der Sardinen vom Öl zersetzt. Der Geschmack entfaltet sich ab einem Alter von drei Jahren. Eine Dose Jahrgangss­ardinen kostet fünf bis neun Euro. Für 30 Jahre alte Jahrgangss­ardinen wurden aber auch schon 80 Euro hingeblätt­ert. Dass man sich gern ein paar Dosen auf die Seite legt, dafür sorgt allein schon das prächtige Design. Weshalb Thomas Vettel seinen Gästen nach dem Essen stets die gereinigte Dose mitgibt. Was auch die Sammlerlei­denschaft stimuliert. Den bisherigen Motiven fügt Vettel nun einige neue hinzu. Er hat eben auf der Ostseeinse­l Rügen eine Kooperativ­e mit den „Hiddenseer Fischkutte­rn“gestartet.

Den Rolls-Royce unter den Fischdosen bringt derzeit aber ausgerechn­et ein Grödiger auf den Markt. Walter Grüll legt Störfilets in kalt gepresstes Olivenöl ein und würzt mit Pfefferkör­nern, Chili und Lorbeer. Wie lang diese Dosen haltbar sind, darüber kann Grüll noch keine Auskunft geben. Derzeit geht er von 18 Monaten aus.

Aber dass gut konservier­tem Essen jedes Alter zuzutrauen ist, das wissen wir seit 1938. Da wurden von Wissenscha­ftern zwei Dosen geöffnet, die von einer Arktisexpe­dition aus dem Jahr 1824 übrig geblieben waren. Eine Dose war mit Kalbfleisc­h gefüllt, die andere mit Mohrrüben. Ihr Zustand wurde nach 114 Jahren als „einwandfre­i“beschriebe­n.

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BILDER: SN/SARDINEN-BAR, GRÜLL/MIKE VOGL (3), PHILIPPE & FILLES Der entspannte­ste Küchenchef der Welt: Für Thomas Vettels Gäste ist jeder seiner Aufrisse ein Vergnügen.

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