1944 Unser letzter Sommer
Burgi Lindmayr war elf Jahre alt, als ihr Vater verschwand. Zunächst wusste sie nicht, warum. Bis sie seine Nachricht entdeckte.
SALZBURG, WIEN. Auf Sommerfrische fahren mitten im Krieg? Burgi Lindmayr nickt. Genau so sei es gewesen, im Sommer 1944. „Wer Verbindungen zu Leuten auf dem Land hatte, war dankbar, dort für eine Zeit lang unterschlüpfen zu können.“Sie sei mit ihrer Mutter von Wien aus nach Liezen zu Bauern gefahren. Der Geschmack von Grießkoch mit Butter ist für sie untrennbar mit dieser Erinnerung verbunden.
Erinnerungen hat sie viele. Die im Kopf und die aus Papier, die schon ihre Mutter fein säuberlich in Schachteln aufbewahrt hat. „Das ist ja ein ganzes Leben“, sagt sie und öffnet eine davon. „Das sonst verschwindet.“Sie spricht von ihrem Vater, Alexander Grasel. Ein groß gewachsener Mann. Noch größer wirkt er neben seiner Frau Jossy. „Sie war so klein, er so groß. Für Fotos hat sie sich immer auf eine Stufe gestellt“, sagt Burgi Lindmayr. Als Jossy 43 Jahre alt war, wurde Burgi geboren, es war das Jahr 1933. „Das war sicher nicht geplant. Wer kriegt in diesen Zeiten schon ein Kind?“, wirft Lindmayr ein. Der Vater, Bauingenieur von Beruf, hatte seine Arbeit verloren. Die Mutter hatte sich von einer Arbeiterin in einer Knopffabrik ehrgeizig zur Direktrice in der Modeabteilung der Wiener Werkstätte vorgearbeitet – Hüte waren ihr besonderes Faible. Doch wer kaufte schon schicke Hüte, wo es keinen Anlass gab, sie auszuführen? Auch Jossy verlor ihre Arbeit.
„Ich erinnere mich noch daran, als Hitler auf dem Heldenplatz sprach. Ich saß auf den Schultern meines Vaters und habe diese Euphorie gespürt. Da kam einer in dieser Zeit der furchtbaren Arbeitslosigkeit und wollte Arbeitsplätze schaffen. Auch meine Eltern waren anfangs begeistert.“Wenige Wochen später hatte Alexander Grasel tatsächlich eine Stelle gefunden: beim Luftwaffengaukommando. Er sollte in einem Büro in Wien Pläne überprüfen. Genaueres weiß Burgi Lindmayr nicht und auch in ihrer Schachtel findet sich keine Antwort.
Was sich aber findet, ist ein vergilbter Zettel, auf dem steht: „Verzeiht, was ich euch angetan. Bitte kommt zum Referenten zum Morzinplatz.“Diesen Zettel entdeckte Burgi, als sie im Sommer 1944 gemeinsam mit ihrer Mutter überstürzt aus Liezen abreiste, da jede Nachricht vom Vater fehlte. Er hatte seit seinem letzten Besuch auf dem Land auf keinen Anruf reagiert. Mutter und Tochter fanden die Wohnung am Währinger Gürtel durchwühlt vor, die Möbel umgestürzt, im Vorraum der Zettel. „Am Morzinplatz war die zentrale Stelle der Gestapo“, schildert Burgi Lindmayr. Ihre Mutter erfuhr, dass der Vater wegen „Wehrkraftzersetzung“ins Konzentrationslager Dachau gebracht worden war. „Wehrkraftzersetzung, was für ein Wort“, sagt Lindmayr. „Es gab damals kaum eine kritische Äußerung, die nicht als eine solche Zersetzung gedeutet werden konnte.“
Ihr Vater habe im Büro den Radiosender BBC London gehört, erfuhr sie später. „Nach Stalingrad war vielen klar, dass dieser Krieg und das Abschlachten ein Ende haben mussten. Viele haben sich das gedacht, aber nicht gesagt. Er hat es offenbar getan.“Zudem fin- den sich Dokumente, die bestätigen, dass sich Alexander Grasel in der Widerstandsgruppe Freies Österreich engagiert hatte. „Mein Vater war am Anfang sicher ein Sympathisant Hitlers“, sagt Lindmayr. „Später wurde er zum Gegner.“Sie vermutet, dass ihn jemand aus seinem Büro verraten hat. „Ich bin froh, nicht zu wissen, wer.“
An das Bangen um ihren Vater denkt sie mit Schaudern zurück. Nicht zu wissen, ob und wann er wiederkommt, sei schwer zu ertragen gewesen. In den Briefen schonte Grasel die Familie. „Wir hatten keine Vorstellung davon, was ein Konzentrationslager ist. Dass die Leute verschwinden und dahin gebracht werden, das ja. Aber dass dort Menschen massenweise vernichtet wurden, das ahnten wir nicht“, sagt Burgi Lindmayr. Die Ungewissheit um den Vater blieb, als das KZ am 29. April 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Sie blieb, bis zwei Männer, die mit Alexander Grasel in einer Baracke gewesen waren, die Familie im August aufsuchten und ihr mitteilten, dass er am Tag vor der Befreiung an Hungertyphus gestorben war.
Es sollte 40 Jahre dauern, bis Burgi Lindmayr den Ort besuchte, den ihr Vater nicht mehr hatte verlassen können.