Raue Töne aus dem Osten Wirtschaftlich haben sie nicht aufgeschlossen
Die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn stehen auf einem anderen Fundament als die meisten westlichen EU-Länder. Das provoziert Konflikte.
Es war sicher kein Zufall, dass der diesjährige Gipfel der Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei Ende Jänner direkt im Anschluss an das Weltwirtschaftsforum Davos stattfand. Womöglich hatte den Entscheidern der Gedanke Pate gestanden, lieber einen Gipfel der kleinen, selbstbewussten Europäer zu organisieren, denn als Zwerge unter den Großen der Welt unbeachtet zu bleiben. Zwar reisten die osteuropäischen Regierungschefs in die Schweiz. Doch ihr Kernanliegen äußerten sie in Budapest. „Wir brauchen kein Imperium, nur einen Verbund souveräner Nationen“, sagte dort Ungarns Premier Viktor Orbán.
Es war eine überdeutliche Antwort auf die viel beachtete Rede von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an der Pariser SorbonneUniversität im September. Macron hatte die Vision einer vertieften EU skizziert, inklusive Souveränitätsübertragung an Institutionen der Union. Europa sei „Ideen ausgesetzt, die sich als bessere Lösungen präsentieren. Diese Ideen haben einen Namen: Nationalismus, Identitarismus, Protektionismus und Souveränismus durch Abschottung“, sagte Macron. Daher müssten die großen politischen Themen Verteidigung, Sicherheit, Migration, Steuern, Klimawandel und Wirtschaft weitgehend an EU-Institutionen übertragen werden. Der Franzose schloss auch ein Europa der zwei Geschwindigkeiten nicht aus, eine vertiefte Wirtschafts- und Währungsunion solle „Herzstück eines integrierten Europas“werden.
Damit scheint der Bruch mit den Visegrád-Ländern programmiert. Denn diese sind gerade dabei, neue und alte nationalistische Pfade zu beschreiten. Die EU soll keine Vertiefung anstreben, sondern „die Beibehaltung bereits erzielter Ergebnisse“, sagen die Osteuropäer.
Tatsächlich verweigern sich die Regierungen der Visegrád-Länder so vehement einer vertieften Integration und dem damit verbundenen Souveränitätsverlust, weil ihre Souveränität auf dem Schlüsselgebiet Wirtschaft faktisch im Westen liegt.
Keines der Länder hat es in den fast drei Dekaden seit dem Systemumbruch geschafft, ein eigenständiges Wirtschaftsmodell zu kreieren, das ökonomisch zur West-EU aufschließen kann. Bisher sind die Visegrád-Staaten trotz kräftigen Wirtschaftswachstums und sinkender Arbeitslosigkeit vor allem verlängerte Werkbänke ausländischer Konzerne. Deshalb hat Ungarn Steuern eingeführt, die in erster Linie ausländische Konzerne zur Kassa bitten, deshalb macht in Polen das Schlagwort „Repolonisierung der Wirtschaft“die Runde.
Diese Praxis geht einher mit dem Abstoßen politischer Vorgaben aus Brüssel. Für diese nationale, antiliberale Linie finden die Rechtspopulisten viele Anhänger. Viktor Orbán verwendet nicht ohne Grund den Ausdruck „illiberale Demokratie“. Denn „der Liberalismus in Osteuropa ist ein West-Import“, schreibt der polnische Intellektuelle und Publizist Sławomir Sierakowski. Liberale Traditionen wie die Gewaltenteilung hätten in Osteuropa keine tiefen Wurzeln geschlagen. Zudem sei die Linke in diesen Ländern heute schwach oder korrumpiert. So verlaufe „die politische Trennlinie nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen richtig und falsch“, sagt Sierakowski.
In der Flüchtlingsfrage scheint aus Sicht der Hauptstädte Osteuropas klar, wer falsch liegt: die EU. Die Flüchtlingskrise ist ein willkommenes Instrument, um politisches Kapital zu schlagen. Vor der Wahl in Ungarn war das Thema bereits beim Wahlsieg des tschechischen Milliardärs Andrej Babiš und seiner Antisystem-Partei ANO (Aktion Unzufriedener Bürger) sowie bei der Wiederwahl des populistischen Präsidenten Milos Zeman wichtig.
Tschechiens Schwenk zu Populisten hänge aber, sagt der tschechische Politologe Jiří Pehe, nicht nur mit Angst vor Muslimen zusammen. Vielmehr seien auch besser ausgebildete Schichten im Land enttäuscht über den ökonomischen Aufholprozess gegenüber dem Westen. Daher, sagte Pehe in einem Interview, trauten sie einem erfolgreichen Unternehmer wie Babiš zu, das Land zu modernisieren – „auch auf Kosten einiger liberaler und demokratischer Werte“.
Dennoch ist die Flüchtlingskrise der Katalysator, der die Unterschiede zwischen Ost- und West hervortreten lässt – was ohne einen Blick in die Geschichte unverständlich ist. Nach Ansicht des bulgarischen Osteuropa-Forschers Ivan Krastev hat die Geschichte für Osteuropäer allerdings eine andere Bedeutung. Das Gros der Staaten Osteuropas sei erst im späten 19. Jahrhundert entstanden. Man kenne die „Vorzüge, aber auch die dunklen Seiten multikultureller Gesellschaften“besser, sagt Krastev.
Vor diesem Hintergrund soll die EU laut Ungarns Orbán und Polens Morawiecki weder „postchristlich“noch „postnational“sein. „Nationalität, nationale Identität und Christentum ist das, was uns stark macht“, sagte Orbán bei einem Treffen der beiden. Die Osteuropäer sind damit Teil eines Trends zur Nationalisierung und zum „NeoAutoritarismus“, wie ihn der polnische Soziologe Maciej Gdula jüngst in einem beachteten Buch für Polen analysiert hat. Statt Konsens und Kompromiss zwischen Ost und West dürften vor diesem Hintergrund mittelfristig Konfrontation und Konflikt dominieren.